
Die Edition Moderne ist der einzige Comicverlag der Deutschschweiz. Sie reiht sich mit diesem rein quantitativen Alleinstellungsmerkmal in eine kleinen Reihe an deutschsprachigen, reinen Comicverlagen ein: Reprodukt, avant, jaja, Cross Cult und Zwerchfell (der war übrigens auch schon Bestandteil einer Kolumne). Eine Betrachtung des Verlags bietet sich aus zwei Gründen gerade jetzt an: Einerseits ist der Verlag seit 2019 unter neuer Führung, andererseits ist mit diesem Frühjahrsprogramm das erste Programm abgeschlossen, das abonniert werden konnte. Und Sie wissen ja, was ich von Abo-Modellen halte (Beweis 1, Beweis 2).
Julia Marti und Claudio Barandun sind schon seit Längerem für die Gestaltung der Bücher der Edition Moderne zuständig, es war also ein natürlicher Schritt, dass ihnen Gründer David Basler die Übernahme des Verlags angetragen hat. Seit 2021 Marie-France Lombardo dazugestossen ist, ist das neue Verleger:innenteam komplett. In dieser zweiten Generation hat sich die Edition Moderne sanft modernisiert. Neu ist nun eben (nebst den Büchern, natürlich) das Abo-Modell. Man kann es für ein halbes oder ein ganzes Jahr abschliessen und findet dann dementsprechend zwischen sechs und dreizehn Büchern in seinem Briefkasten.
In den letzten Wochen lag dieses Halbjahresabo vollständig vor mir. Sieben Bücher, Kampfgewicht gute fünf Kilogramm. Und für einmal muss die literaturkritische Substanz in dieser Kolumne etwas aussen vor bleiben. Nicht, weil sich die Bücher der Edition Moderne dafür nicht würdig gezeigt hätten, sondern weil ich mich ihnen anders nähern möchte. Nämlich buchgestalterisch. Zwangsläufig ist damit ein reduktionistischer Ansatz verbunden, weil ausnahmsweise die Form ebenso viel zählt wie der Inhalt (aber zu diesem genauen Zusammenspiel kommen wir noch). Trotzdem glaube ich aber, dass erst eine gestalterische Würdigung der Bücher dieser neuen, sanft modernisierten Edition Moderne auf die Schliche kommen kann.
Marti und Barandun sind Verleger:innen, klar, aber hauptberuflich eben auch: Gestalter:innen. Und unmissverständlich zeigt sich der Brotberuf an und in den vorliegenden Büchern. Bereits die Form fällt auf: Jedes Buch hat ein eigenes Format. Passgenau auf den Inhalt zugeschnitten. Jedes Buch ist auch buchgestalterisch und in der Ausprägung höchst differenziert. Also keine Serienästhetik, sondern Individualismus pur. Bereits da muss man erstaunt aufhorchen, das passt eigentlich nicht zu einem Genre, dessen Ursprung auf Zeitungspapier und der möglichst billigen und effektiven Massenverbreitung lag (und zumindest im englischen Sprachraum weiterhin oft noch liegt).
Oder um das anders formuliert anhand der Bücher zu quantifizieren (und mit Verlaub, das sind tatsächlich noch nicht alle Merkmale, sondern die offensichtlichsten):
- 2 Hardcover
- 2 mit Übergrösse
- 3 mit Fadenheftung
- 3 mit Sonderfarben gedruckt
- 1 vierfarbig gedruckt
- 1 auf zwei verschiedenen Papieren (matt/glänzend) gedruckt
- 3 mit andersfarbigen Papiereinschüben im Buchblock
- 1 mit Goldprägung
- 1 mit foliertem, perlmuttschimmerndem Cover
- 1 mit gefalztem Umschlag im Posterformat
- 1 mit offener Bindung
- 1 wie ein Wochenkalender gedruckt (natürlich auch mit foliertem Cover)
Schweizer Emanzipationsgeschichten
Platz haben in der Edition Moderne sowohl übersetzte als auch im Original deutschsprachige Werke. Die Schweizer Comicschaffenden sind im Frühjahr mit gleich vier Werken besonders gut vertreten. Auffälliger ist aber, dass gleich drei dieser Comics in irgendeiner Form Emanzipationsgeschichten erzählen. Ganz offensichtlich etwa in dem sowieso augenfällig gestalteten Comic Gläserne Gedanken von Matthias Gnehm. Im Reporterblockformat liest sich der Band wie eine einzige, lange Website, die man entlangscrollt. Gnehm erzählt darin die Geschichte von Markus, einem Schriftsteller, der gar keiner ist, weil er seine Bücher nicht schreibt, sondern sie diktiert. Der Band kreiert eine hyperrealistische Welt, in der ein Entwickler an einer App arbeitet, die Gedanken erfassen kann, bevor man sie ausspricht. Gnehm bettet diese Welt aber in eine Emanzipationsgeschichte, die sich als leises Familienporträt ausbreitet. Markus’ Welt schwankt, er ist kürzlich Vater geworden, hadert aber mit seiner Vaterrolle, sein neuestes Buch ist erschienen, verkauft sich aber schlecht. Erzählt ist das in den für Gnehm typischen Zeichnungen, die fein schattiert ganz dicht an den Gesichtern der Figuren dran sind und ihre Regungen aufs Papier bringen. Gestaltet ist der Band wie gesagt als 640 Seiten langer Scrollprozess, unterstrichen durch die an den Seitenrändern angezeigten Seitenzahlen, die sich wie ein Scrollindikator im Browser mit zunehmender Seitenzahl fortbewegen. Gepaart mit einer für Comics unüblichen serifenlosen Schrift spielt die Geschichte auch in der Gestaltung zwischen Künstlich- und Natürlichkeit. Gerade das Scrollen durch den Buchblock fühlt sich komisch an, visuell wähnt man sich auf einer Website, haptisch bleibt man aber Buchleserin. Besonders perfide ist, dass ein QR-Code auf der Rückseite einen die Geschichte tatsächlich im Web durchscrollen lässt.
Auch Pirmin Beeler erzählt in Das Leuchten im Grenzland von einer Emanzipation. Und dies gleich in zweifacher Form. Einerseits von Nino, der als Jugendlicher mit dem Moped nach Rimini fahren will, und andererseits von seiner Grossmutter, die aus Italien in die Schweiz migriert ist. Genauso wie sich die Wasserfarben in Beelers Zeichnungen verbinden, verwebt der Autor auch die beiden Erzählebenen zu einer unaufgeregten, atmosphärischen Reise in die Vergangenheit zweier Generationen. Die Gestaltung von Marti und Barandun orientiert sich an diesem Erzählfluss, ist, wenn man so sagen darf, unaufgeregt und für einmal ganz dezent im Hintergrund agierend. Die mit Fineliner gezeichneten und mit Wasserfarben kolorierten Bilder stechen in vollem Glanz heraus. Das dicke Papier erinnert in seinen Eigenschaften an einen Zeichenblock für Wasserfarben, spiegelt also die Materialität des Ausgangsmaterials wider. Aber natürlich fehlen auch hier die Details nicht, ist doch etwa der Vorsatz mit einem Farbverlauf ausgestattet, der das leise Zerfliessen der Figuren unterstreicht.
Auch in Starkes Ding von Lika Nüssli findet sich die Geschichte einer Kindheit, womit ja zwangsläufig eine Emanzipation verbunden ist. Sie erzählt aber keine fiktionale, sondern eine wahre Geschichte. Die Geschichte ihres Vaters. Ernst war ein sogenannter Verdingbub. Verdingkinder wurden in der Schweiz Kinder genannt, die meist in ländlichen Regionen und aus armen Bauernfamilien an wohlhabendere Familien für ein monatliches Entgelt als Arbeitskräfte „verdingt“ wurden. Oftmals mussten diese Kinder arbeiten bis zum Umfallen und hatten kaum Möglichkeiten, die Schule zu besuchen. Den Familien blieb in Anbetracht der eigenen Anzahl Kinder und den ökonomischen Verhältnissen wenig anderes übrig. In grossflächigen, mit dickem Strich gemalten Zeichnungen erzählt Nüssli diese Geschichte. Mit feinem Humor, der der Schwere des Schicksals behutsam zuwiderläuft. Verwebt hat die Autorin die Erinnerungen mit Aufzeichnungen ihres Vaters, der seit einigen Jahren jeden Tag das Wetter notiert. Marti und Barandun nutzen diese Wetternotizen als visuelle Ankerpunkte, die sich durch den ganzen Band ziehen. Die Siebenteilung begegnet einem sowohl auf dem Cover wie auch im Comic selbst immer wieder. Der Band ist mit seinem Überformat schon fast unerträglich gross (wie das Thema, ist man versucht zu sagen), tritt dann aber in der Gestaltung wiederum ganz hinter den Inhalt und die Zeichnungen zurück.
Ausgestellte Kunst oder Kadaver auf dem Kunstmarkt
Schon nach den drei Emanzipationsgeschichten lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Die Gestaltung ist aufregend, manchmal extravagant, aber nie unangebracht; sie gibt der durch Text und Bild erzauberten Klinke die sprichwörtliche Hand. Das zeigt sich auch ganz gut in drawing together/zusammen zeichnen, herausgegeben von Hans Ulrich Obrist, Hilar Stadler und David Glanzmann. Das ungewöhnliche Buch begleitet die gleichnamige, von Obrist zusammengestellte Ausstellung im Museum im Bellpark in Kriens. Darin versammelt sind Cadavres exquis, also gemeinsam angefertigte Zeichnungen, von sage und schreibe gut 400 Personen. Der Ansatz für die Zeichnungen war einfach: Jemand beginnt, faltet danach den selbst gezeichneten Teil und markiert nur die Ränder der eigenen Zeichnung, die dann von der nächsten Person aufgegriffen wird. Mir war das noch als Spiel aus Schulzeiten in Erinnerung. Das hier ist auch gekritzelt, wild und meist schnell hingeworfen, nur heissen die Urheber:innen Ai Weiwei, Alexander Kluge, Ellen Pau oder Kamasi Washington und nicht Schulkamerad eins und Schulkameradin zwei. Das Buch ist imposant mit seinem etwas grösseren Format als A4 und dem dicken Papier. Gelegt ist die einfache Broschur in ein gefalztes, zweifarbiges Poster, auf dem die Mitwirkenden wie auch die Titelseiten in beiden Sprachen abgedruckt sind. Das Buch hat eingeschobene Farbblätter und die gescannten Kritzeleien, sorry Cadavres exquis (etwas Boheme für den Kunstdünkel), werden in ihrer ursprünglichen Materialität auch im Buch gespiegelt, da die Scans durch Schattierungen angezeigt werden und sich so optisch von den Druckseiten leicht abheben. Fast in den Buchblock hineingelegt haben Barandun und Marti die Namen der Verfasser:innen, nur wer das Buch ganz aufschlägt, wird sie jeweils direkt bei den Zeichnungen finden.

Auch Nino Bullings abfackeln hat einen Ausstellungsbezug und ist zu dessen Arbeiten auf der documenta fifteen sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch erschienen. Bulling erzählt die Geschichte von zwei Menschen und deren Beziehung, die sich in dieser immer wieder neu finden müssen, was damit zusammenhängt, dass Ingken die Person noch nicht gefunden hat, die sie sein möchte. In Zwischentönen erzählt Nino Bulling diese Suche nach sich selbst. Nimmt man das Buch in die Hand, erstaunt die Haptik, vorne matter, hinten glänzender Karton. Auch im Buch selbst wird man die beiden verschiedenen Papiere wiederfinden. Die Geschichte des „Abfackelns“ und des sich selbst Neu-Findens wird also auch auf der Papierebene unterstützt. Überhaupt wird die Allegorie des Abfackelns sowohl inhaltlich als auch gestalterisch umgesetzt, die Dialoge stehen alle in roter Schrift und auch die Umrandungen der Bilder sind rot. Schaut man auf die offene Klebebindung fällt Weiteres auf – natürlich ist auch der Faden rot. Durch einfache, aber effektive (und notabene teure und aufwändige) gestalterische Mittel ergänzt die Form so den Inhalt.
Reisende Held:innen
Bissi Sex, bissi Liebe, bissi Beziehung. Und ganz viel Treiben. So lässt sich der perlmuttschimmernde Band Treiben von Bernadette Schweihoff zusammenfassen. Und der Untertitel gibt weitere Auskunft über das Thema: Unterwegs mit der Transsibirischen Eisenbahn. Ein Pärchen ist also auf Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn, ganz in Blau- und Rottönen gehalten wechseln sich die entsprechenden Gemütslagen auch ab. Von der äusseren Kälte bleibt wenig übrig zwischen dem Pärchen, das ganz heiss aufeinander ist. Es wird geliebt, gefickt, sich an die sexuelle Vergangenheit erinnert, gesext und auch – sorry für die Wiederholung – viel getrieben. Schweihoff unterstreicht die Geschichte mit vielen atmosphärischen Landschaftszeichnungen. Gestalterisch stechen das Cover und die zwei maßgeblichen Farben hervor, ansonsten tritt die Gestaltung vornehm hinter den Inhalt zurück. Wenn die Bilder ganz bis zum Rand gehen, werden natürlich auch keine Seitenzahlen vermerkt, um ganz die Atmosphäre wirken zu lassen. Auch hier hat der Comic kein Handlettering, sondern eine Schrift, die sich im ganzen Band wiederfindet. Es gibt daher auch keine Sprechblasen, vielmehr legt sich die Schrift über die Zeichnungen. Eine Held:innenreise mit dem Zug durch das eigene sexuelle Erwachen und Begehren und Fortbestehen. Mal kalt, mal heiss erzählt.
Kalt, zumindest farblich, ist die einzige Übersetzung aus dem Frühjahrsprogramm, Ruinen von Jeremy Perrodeau (aus dem Französischen von Christoph Schuler), der Band ist nämlich komplett (mit Ausnahme des Covers) in Blau getaucht. Perrodeau erzählt dem Muster nach eine klassische Heldenreise. Zwei Menschen begeben sich auf ein Abenteuer. Nur spielt dieses Abenteuer nicht irgendwo in der Welt, sondern im virtuell nachkonstruierten Geist der Komapatientin Rose. Monroe, Experte für solche Dinge, und Anha, die Schwester von Rose, machen sich in dem zerfallenden Universum auf die Suche nach Rose, um sie zu befreien. Das Koma wird hier also zur virtuellen, künstlich begehbaren Welt, die den Geisteszustand der Patientin versinnbildlicht. Auffällig ist die Schrift, die den Band begleitet, sie passt im Ton aber gut zum Rest, also den Bildern und der Geschichte. Im blauen Vorsatz, fadengeheftet und auf dickem Papier, lässt auch Ruinen kaum buchgestalterische Wünsche offen.
Die Betrachtung der sieben Bücher war nun hauptsächlich gestalterischer Natur, trotzdem gibt es eine erstaunliche inhaltliche Linie, die sich durch das Frühjahrprogramm der Edition Moderne zieht: das Sich-Selbst-Finden. In der eigenen Vergangenheit. In der Vergangenheit anderer. In einer Beziehung. In der Familiengeschichte. Oder in einer künstlichen Welt. Und auch das Fazit fällt mir erstaunlich leicht: Natürlich sind die Bücher der Edition Moderne immer aussergewöhnlich gestaltet und natürlich darf dies manchmal auch extravagant sein, was aber auffällt, ist, dass die Gestaltung immer im Dienst des Erzählmaterials steht, aus Bild und Text also nicht nur eine Abfolge herzaubert, sondern ein ausgewogenes Gesamtpaket. Oder anders gesagt: aussergewöhnliche, in sich runde Bücher. Und spätestens jetzt sollten Sie wissen, weshalb das Programm des einzigen deutschschweizerischen Comicverlags einen Blick wert ist, auch wenn ich nur wenig über die Inhalte gesagt habe.
Ein fröhlicher und schön gestalteter Dank an Nick Lüthi