
Wie steht es eigentlich um die Lyrik? Geht es ihr gut?
Pauschal lässt sich die im Titel aufgeworfene Frage natürlich nicht einfach so beantworten. Aber zumindest was die Gedichte selbst, ihre Vielfalt, Verspieltheit und Kreativität angeht, lässt sich die Frage klar bejahen, der Lyrik geht es ausgezeichnet. Klar, die jungen Stimmen mit den 90er-Jahrgängen haben noch nicht einen solchen Fussabdruck hinterlassen, wie es die aussergewöhnliche Menge an herausragenden Lyriker*innen aus dem Jahrzehnt davor getan hat. Aber trotzdem erscheint weiterhin Band um Band mit spannenden, verzweigten Werken. Wenn man Lyrik lesen will, mangelt es sicherlich nicht an gutem Material. Für den deutschen Sprachraum gilt dies aber seit vielen Jahrzehnten.
Ökonomisch schaut das Ganze ein wenig anders aus, dazu muss man sich nur die paar Neuigkeiten aus den letzten Wochen und Monaten vor Augen führen: DIE REIHE im Wolfbach Verlag, in der die wichtigsten Stimmen aus der Schweiz veröffentlicht haben, hat 2020 nach zehn Jahren und 72 Bänden schließen müssen. Die Edition Azur ist unter das Dach des Berliner Verlags Voland & Quist gezogen. Um den gutleut Verlag aus Frankfurt ist es sehr, sehr ruhig geworden und das bedeutendste Netzportal für Lyrik, fixpoetry, hat 2020 aufgeben müssen. Klar, für jedes Beispiel liesse sich ein Gegenbeispiel finden und in der Schweiz stand mit Jürg Halters neuestem Band Gemeinsame Sprache (Dörlemann Verlag) immerhin erst kürzlich ein Lyrikband auf der Bestsellerliste. Aber eine Disziplin, die aus ökonomischen Überlegungen heraus betrieben wurde, war die Lyrik nie, irgendwie finanzieren muss sie sich natürlich trotzdem. Und was die aufgeführten Beispiele zeigen, über die üblichen Vertriebskanäle des Buchmarktes funktioniert das eher schlecht. Es erstaunt von daher wenig, dass sich das für Bücher unübliche Vertriebsmodell als Abonnement gerade in vier deutschsprachigen Lyrikverlagen finden lässt. Höchste Zeit also, einen Blick in die Programme dieser vier Verlage und ihrer Abomodelle zu werfen.
Stummheit
ich
nehme einen stein
werfe ihn hinaus
in das Wasser
das Wasser
liegt still
(aus Svein Jarvoll: Thanatos. Urs Engeler. Aus dem Norwegischen von Matthias Friedrich)
roughbooks
Als einer der Ersten für ein solches Abomodell entschieden, hat sich Urs Engeler, der mit seinem Verlag roughbooks seit 2010 Lyrik im Abo anbietet. Die Büchlein des Verlags haben alle das gleiche Format, verzichten auf jeglichen Schnickschnack und werden im Digitaldruck hergestellt. Auch auf Illustrationen oder illustrierte Titelbilder wird verzichtet, es gibt ein reines Typografiecover und dazu Gedichte. Ganz im Gegensatz zu diesem spartanisch reduzierten Äusseren, stehen die Gedichte und Autor:innen, die im Verlag erscheinen. Unter ihnen gibt es viele bekannte Namen wie Elke Erb, Dagmara Kraus, Ulf Stolterfoht oder Konstantin Ames, viele Übersetzungen und auch einige Debüts. Allen Texten gemein ist, dass man sie nur schlecht auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann. Die sprühenden Gedichte von Carla Cerda haben vordergründig nur wenig mit (den ebenfalls sprühenden, aber anders gelagerten) Gedichten einer Elke Erb zu tun. Die unflätige Sprache eines Halldór Laxness Halldórsson vorläufig nur wenig mit der reduzierten Meditation eines Svein Jarvoll. Trotzdem lesen sich die roughbooks als Fortsetzung, was sie an gestalterischer Raffinesse vermissen lassen, machen sie mit dem Glitzer ihrer Inhalte wieder wett. Die roughbooks sind ganz klar aus einer pragmatischen Haltung erwachsen und auch ein Zugeständnis an die ökonomische Lage des deutschsprachigen Lyrikbetriebs: Es ist nicht die Ausgestaltung, die zählt, sondern der Text.
parasitenpresse
Einen zumindest in Teilen ähnlichen Ansatz verfolgt die Kölner parasitenpresse. Seit dem Jahr 2000 erscheinen dort rund zwölf Titel im Jahr, auch sie alle im gleichen Format, mit den gleichen Coverschriften (Erik Spiekermann und Fira Sans lassen grüssen) und dem gleichen nüchternen Ansatz: Es sind die Texte, die in den Vordergrund gerückt werden. In den Inhalten geht dieser Ansatz aber auseinander, in der parasitenpresse gibt es viele Übersetzungen, viel Unbekanntes, viel Noch-nie-Gehörtes und auch immer wieder Erzählungen. Auch hier finden sich ein paar bekannte Namen wie Kinga Tóth oder Verleger Adrian Kasnitz, aber auch viele Namen die, wenn man sich nicht tagtäglich mit Lyrik beschäftigt, vordergründig unbekannt sind, was den Entdeckungsspielraum umso grösser werden lässt. Kürzlich hat etwa Astrid Nischkauer Museumsbegehungen in Gedichtform verfasst oder Nora Zapf Fieberträume ins Höllenfeuer gegossen und daraus gleich eine lyrische Begehung dieser Welten gezimmert („und immer bergab”). Von Adrian Kasnitz’ poetischem Langzeitprojekt Kalendarium wird jedes Jahr ein Monat dokumentiert, bald erscheint Band sieben (Juli). Auch als Übersetzer ist der Verleger tätig, zuletzt bei dem Band Wilde Tiere des lettischen Dichters Krišjānis Zeļģis, in dem die Urgewalten aus dem Tierreich mit den Menschen kollidieren und sich die Frage stellt, wer denn nun tatsächlich wild ist.
die Lichter im Saal gingen aus
eine Sicherung war durchgebrannt
vom langen Warten ist der Elektriker umgekippt
in seiner Elendskammer
und hat das Bier auf dem Verteilerkasten verschüttet
als die Managerin hereinkam
hatte sie etwas Schaum
in den Mundwinkeln
(aus Krišjānis Zeļģis: Wilde Tiere)
aphaia Verlag
Im aphaia Verlag aus München, auch ein ausschliesslicher Lyrikverlag, lässt sich nicht das ganze Verlagsprogramm abonnieren, sondern die Reihe Mitlesebuch. Dort präsentieren Lyriker*innen kürzere Werke und es erscheinen ein, zwei Titel pro Jahr. Obwohl mein Abo seit einem guten Jahr läuft, ist also erst ein Titel bei mir eingetroffen, Sie verzeihen mir die begrenzte Breite an besprochenem Material. Die Mitlesebücher haben alle das gleiche Format, grossformatige Klappenbroschuren, die schlicht und elegant gesetzt sind. Ganz dem Ideal des Reihenkonzepts entsprechend finden sich viele Erst- oder Zweitlinge in der Reihe, wie letztes Jahr das Debüt von Lea Schlenker, aber auch viele andere aufstrebende junge Stimmen wie Timo Brandt oder Hasune El-Choly. Schlenkers Gedichte wirken elegant, tragen in dieser Eleganz aber auch die aufgestellten Ohren des lauernden Tieres. Die Tiger werden dressiert, die Nachfragekurve mit dem Motorrad besucht und der Sommer brutzelt unerbittlich die Haut ledern, die so entstehenden Tagträume nur vom Geruch des Erbrochenen unterbunden.
Lavendel
Lavendel der die Luft verändert
Magazine die die Mädchen verändernIch wurde geschaffen um zu schlafen und zu wachen
Über ein imaginäres Königreich(aus Lea Schlenker: Eine Auswahl an Fluchtmöglichkeiten)
Verlagshaus Berlin
Etwas anders zum pragmatischen Ansatz der roughbooks oder der parasitenpresse stehen die Bücher des Verlagshaus Berlin. Jeder Gedichtband der Hauptreihe Edition Belletristik ist nicht nur hochwertig gestaltet, sondern auch durchgehend illustriert. In der Reihe haben alle Bände das gleiche Format, gleiches Papier und auch hier finden sich viele bekannte und mit wichtigen Lyrikpreisen bedachte Namen: Asmus Trautsch, Jan Kuhlbrodt, Anna Hetzer, Caca Savic, Lea Schneider oder Birgit Kreipe. Hinter dem dichterischen Programm steht hier eine etwas anders gelagerte Schule, eine eher verklausulierte Sprache, akademisch angehauchte Lyrik, komplex in der Bedeutung. Dieser Ansatz wird von der Edition Poeticon unterstrichen, in der Essays zu verschiedenen Themen zur und über die Lyrik erscheinen. Vom Verlagshaus wird also auch der Diskurs und das Nachdenken über Lyrik bewusst vorangetrieben, zuletzt etwa mit einem Essay von Christian Metz, der Gedanken dazu anstellt, wie die Lyrik ihre Gegenwart dokumentiert.
Im Herbst 2020 wurde das Verlagsprogramm um eine neue Reihe erweitert. In der Edition Zwanzig erscheinen Debüts, in Chapbooks ohne Illustration und rein typografisch in Szene gesetzt. Den Anfang machten die Bände von Alisha Gamisch und Barbara Juch. Gamisch entspinnt in Lustdorf ein imaginiertes Gespräch mit einer Grossmutter, der Dialog steht sinnbildlich für die vielen Dialoge zwischen Grosmüttern und ihren Enkelinnen. Gleichzeitig wird aber, ganz im Sinne von Christian Metz, ganz viel dokumentiert, eine russlanddeutsche Geschichte zwischen zwei Frauen, eine ist schon, die andere ist weiterhin im Werden begriffen. In Juchs Barbara dagegen sind die Bs vorherrschend; es barbariert, die Brautsträusse fliegen und die Barbaras werden noch nicht mit Kulis niedergeschrieben. Auch hier geht es um die eigene Herkunft und den damit einhergehenden vererbten Wesensansatz und darum, wann man den eigenen Namen endlich mit wasserfester Tinte niederschreiben kann.
Ich bin ein hässlicher mensch, sagte ich
als mir brüste wuchsen
immerhin bist du ein mensch, sagte eine oma
(aus Alisha Gamisch: Lustdorf)
Wie steht es jetzt also um die Lyrik? Was ich nach gut zwei Jahren mit vier Lyrikabos sagen kann, ist, dass es der Lyrik, die auf Deutsch geschrieben und übersetzt wird, hervorragend geht. Aber das, Sie verzeihen mir die Wiederholung, ist eine müssige Aussage, die seit vielen Jahrzehnten Gültigkeit hat. Nach wie vor ist die Lyrik die Spielform der Literatur, die zwar am wenigsten Text bietet, dafür aber umso mehr Auseinandersetzung mit diesen Texten verlangt. Ökonomisch, und auch das ist eigentlich eine müssige Aussage, geht es der Lyrik schlecht. Startauflagen von 200 bis 300 Stück sind keine Seltenheit und zeigen, wie klein der Kreis an Lyrikleser*innen dann häufig ist. Doch gerade hier bieten die Abonnemente der vier Verlage einen Ansatzpunkt, um den eigenen Lyrikhorizont mit überschaubarem Kostenaufwand zu erweitern: Die Abos bewegen sich zwischen 10 und 100 Euro jährlich.
Ich hätte, da sind wir ehrlich, wohl kaum 10 % der Bände, die durch die Abos zu mir gelangt sind, einfach so gekauft, kann heute aber sagen, dass ich um fast jeden Band und fast jede Lektüre froh bin. Die deutschsprachige Lyrik kennt viele Facetten, ist häufig kreativ und überraschend, und das ist, auch da sind wir wieder ehrlich, mehr, als man von den meisten Gegenwartsromanen erwarten kann. Lyrik lesen lohnt sich (glaube ich).
Dank an Nick Lüthi von BookGazette