Natalie Deewan: Lucida Console (Klever Verlag)

Lucida Console ist der Name einer Schrift, in der die Sprachkünstlerin und Typografin Natalie Deewan ihr gleichnamiges Debüt gesetzt hat. Darin „remixt“ sie Aussagen unterschiedlicher Herkunft. Es handelt sich um einen Austausch von Sprecherpositionen, den die Autorin in ihrem Buch lustvoll montiert.
Das In-Beziehung-Setzen der verwendeten Textbausteine wirkt wie eine Kraftkammer der Übersetzung. Das Werk ist daher ein Translatorium Maximum, so auch der Untertitel des Buches, das sich heiter und entspannt zum „Recycling“ von Literatur und somit zu seiner ironisch reflektierten Epigonalität bekennt.

Der Text besteht aus der kunstvollen Aneinanderreihung von Zitaten, die in unterschiedlichen Sprachen wie Deutsch, Englisch, Französisch oder Italienisch verfasst sind und in Auszügen wiedergegeben werden. Dabei wird das Sprachempfinden von Leserinnen und Lesern in angemessener Weise gestört.
Lucida Console zitiert Sätze, Halbsätze und Worte strikt unverändert und meist auch unübersetzt, wobei die Quellen im Anhang akribisch aufgelistet werden. Das Werk lässt sich somit „romantisch“ lesen – einer scheinbaren Handlung folgend –, aber auch „archäologisch“, indem man die Zitatquellen im Anhang nachschlägt, oder ebenso lyrisch, indem man mit Freude an der Sprache den Text als umfassendes Gedicht genießt.
Die Aussagen werden nicht „blind vor sich hin addiert“, es handelt sich also nicht um einen „automatischen“ Text. Die Autorin lässt mitunter bewusst scheinbare Rededuelle zwischen scheinbaren Figuren entstehen, wie das folgende Beispiel zeigt:

Wenn ich die Wahl habe, eine dorische Säule zu betrachten oder eine junge Frau, die diese Säule betrachtet, entscheide ich mich stets für die Frau. (Thomas Rothschild 1984)

Inmitten dieses Kabinetts der Stereotypen ist sie selbst schon längst zum Ausstellungsobjekt geworden. (Belinda Kazeem 2015)

Man möge diesen Weg weitergehen und auch die Beleuchtungen beleuchten, (Isabella Ban 2000)

Diese Blickregime werden seit Jahrhunderten gepflegt. (Belinda Kazeem 2015)

Durch die Auswahl von Zitaten aus anderen Werken spiegelt Natalie Deewan zwar die eigene diskursive Verortung wider, verweigert aber eine klare Antwort auf vermeintlich zwingende Fragen.
Lucida Console ist ein Staffellauf der Rede, ein antilinearer Zettel- und Verweiskasten oder eine auf Georges Perec verweisende Textmaschine in 2841 Bestandteilen – denn so viele Fußnoten gibt es.

Wir begegnen in Deewans Debüt Auszügen aus Wörterbüchern, Wikipedia oder der Bibel, aus Zeitungen und wissenschaftlichen Werken. Darüber hinaus finden sich Aussagen von Elfriede Gerstl, Ivetta Gerasimchuk, Ludwig Wittgenstein, Brigitta Falkner, Georges Perec, H.C. Artmann, Josef Kyselak, Yasmo alias Jasmin Hafdeh, Jean-Marie Le Pen, Claude Lévi-Strauss sowie Zitate der Brüder Grimm oder von Schülern einer „Sonderklasse“, um nur ein paar wenige der „Figuren“ zu nennen.

Zur Erstellung dieser Hypertext-Fiktion entwickelte die Autorin ein Textrecycling- und Ordnungssystem, das als Sprungbrett für neue Diskurse herangezogen werden kann. Dabei kommen Utopie, Ironie und Parodie nicht zu kurz, bis irgendwann die Ressourcen des Textarchivs oder der produktiven Lust an der Textmontage versiegt sind und die Autorin nach 225 Seiten – vor dem umfangreichen Anhang mit den Quellenhinweisen – mit den folgenden Zeilen endet:

„AUS!!“ (Brigitta Falkner 1996)

– mit diesem Satz schloß ich meinen Aufsatz ab. (Yoko Tawada 2002)

Tatsächlich ist es ebenso ein Zeichen der Erschöpfung wie ein Zeichen für den unbegrenzbaren Bezeichnungsprozeß selbst. (Judith Butler/Ü: Katharina Menke 1991)

Z. B. heute ist heute, heute ist auch morgen usf.; jetzt ist es Tag, aber jetzt ist auch Nacht usf. (Friedrich Hegel 1979)

Dieses „usw.“ ist das supplément*, der Überschuß, der zwangsläufig jeden Versuch (Judith Butler/Ü: Katharina Menke 1991)

In jedem Moment, zu jeder Stunde (Petra Coronato 1999)

begleitet (Judith Butler/Ü: Katharina Menke 1991)

wenn es sein soll. (Petra Coronato 1999)

Natalie Deewan ist mit Lucida Console ein mutiger experimenteller Text über das schwierige Verhältnis von Kunst und Sprache, Gesellschaft und Literatur, Diskurs und Verständnis geglückt.

Dank an Beate Kniescheck

  • Natalie Deewan: Lucida Console – ein Translatorium Maximum. Deutsch, Englisch, Französisch. Wien: Klever Verlag 2022. 330 Seiten, Klappenbroschur,14,8 × 21 cm. 26 Euro

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s