Mondhase an Mondfisch: Gespräch zweier Künstlerinnen

„ich bin müde der baumlosen ebenen zertrümmerten jahreszeiten schwarzen
löcher im kosmos des lichtmangels auf dem grund der see
sollte irgendjemand mich suchen auf den helligkeitsstufen einer zukunft
aus kunststoffabfällen und virenzyklen

achtet auf fell und flossen und schattierungen von weiß
blass wie frühnebel aus dem dünne äste ragen

ununterbrochen über die gelenke ziehe ich
trennungsstriche die brennen wie ein

WACHSLIED“

Die Malerin und Schriftstellerin Johanna Hansen hat mit dem Kunstbuch Mondhase an Mondfisch, 2022 im Wortschau Verlag erschienen, ein außergewöhnliches Kunstwerk geschaffen.

ICH KANN NOCH GAR NICHT HERAUS AUS DEN TRAUMNETZEN[1]

Das „Langgedicht“, wie die Künstlerin es selbst nennt, rankt sich schon im Titel um zwei sagenumwobene Gestalten, den Mondhasen und den Mondfisch. Beide sind eigentümliche, auch abgründige Figuren, die irgendwo zwischen Fantasie, Mythos und Wirklichkeit angesiedelt sind. Während der Mondhase in den Legenden verschiedener Kulturen auftaucht, immer auch verbunden mit der Vorstellung von Unsterblichkeit, gibt es den Mondfisch wirklich: Als riesenhaftes Ungetüm – er hat einen Durchmesser von bis zu drei Metern – gehört er zu den schwersten Knochenfischen der Welt. Unten im Wasser also bewegt er sich, der Mondhase aber schwebt weit oben am Himmel, auf dem bisher einzigen Himmelskörper, den Menschen betreten haben.

ICH BIN ANGEGRIFFEN AN DER WURZEL MEINES LEBENS

Mondhase an Mondfisch ist auch die Geschichte eines beobachtenden lyrischen Ichs, das die Dinge eher von außen wahrnimmt, als in der Mitte des Geschehens zu stehen, und das sich immer in einer Distanz und Fremdheit zur Welt erlebt und sieht.

„seit ich aus der zeit gefallen bin
ist es nicht mehr wichtig eine mission zu haben
gegen die zunehmende versteppung der fußgängerzonen in der juliglut
räume ich links ein astloch für den regen in jeden traum
rechts sind meine augen sandig und auf entzug“

Die Künstlerin verflicht in dem Buch Musik, Bilder und lyrische Passagen zu einer synästhetischen Collage. Dabei dichtet sie selbst, zitiert fragmentarisch – einzelne Sätze und Wörter – aus dem leidenschaftlichen Briefwechsel des Liebespaares Clara Wieck und Robert Schumann und übermalt dessen Partitur zu den „Kinderszenen und anderen Klavierstücken“ mit ausdrucksstarken Tuschbildern, die vornehmlich in starken Farben gehalten sind: Purpur, Violett, Schwarz, düster aufgetürmte Blauarten und hie und da ein knalliges Rot dominieren die im besten Sinne des Wortes eigenartigen Darstellungen, die an Traumsequenzen, Fabelwesen und auch kindliche Erinnerungsfragmente denken lassen, aus den Tiefen des Unterbewusstseins aufgestiegen, vielleicht aus einer Mondfischwelt, und die nun im fahlen Mondhasenlicht der bewussten Wahrnehmung leuchten.

Johanna Hansen im Gespräch mit Ulrike Schrimpf

Ulrike Schrimpf: Liebe Johanna, ich beginne mit einer eher ungewöhnlichen Frage – zumindest, wenn sie am Anfang eines Gespräches steht: Du wirst viel rezensiert, bist es gewöhnt, Gedanken und Eindrücke zu deinen Arbeiten zu lesen. Was fehlt dir in der Wahrnehmung deiner Kunst?

Was mir fehlt, ist die gleichzeitige Sicht auf beides: Text/Gedichte und Bilder. Entweder werde ich als Malerin wahrgenommen oder als Autorin. Es fühlt sich dann so an, als ob die eine Hälfte unsichtbar bleibt oder bleiben muss, je nachdem worauf der Fokus gerichtet wirdIch stecke in einem Dilemma. Dabei ist es ganz einfach. Ich bin eine malende Autorin oder eine schreibende Malerin. Das wird mir oft nicht zugestanden. Man kann nur eins „richtig“ machen, heißt es gelegentlich. Du musst dich entscheiden. Entweder Malerin oder Lyrikerin. Solche Maßstäbe erlebe ich als Entwertung, und sie setzt mir zu.

Du bezeichnest Mondhase an Mondfisch als „Langgedicht“. Gleichzeitig ist das Buch, wie oben beschrieben, eine synästhetische Collage. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du mir einmal erzählt hast, insgesamt synästhetisch veranlagt zu sein, also Farben zu hören etc. Kannst du das ein bisschen genauer beschreiben, im Allgemeinen und in Bezug auf deine Kunst?

Ich habe bereits als Kind durch die Reaktionen anderer auf mich bemerkt, dass meine Wahrnehmung anders funktioniert als bei vielen anderen. Ich nehme die Frequenzen von Farben und Lauten sehr stark wahr, das ist eine Art Übersensibilität. So höre ich z. B. Bilder in gewisser Weise so, wie ich Musik höre. Und ich sehe Wörter so, wie ich in einer Ausstellung Bilder anschaue. Beides ist miteinander verschränkt. Alle meine Sinne funktionieren mehrspurig und überscharf. Erst mit Mitte 50 hatte ich den Mut, die Anlage der Synästhesie nicht mehr als Mangel, sondern als eine besondere Art des Umgangs mit der Welt schreibend so zu nutzen wie es mir gefällt.

Als bildende Künstlerin bist du schon lange bekannt und erfolgreich; als Dichtende, Schreibende bist du aus meiner Sicht noch nicht in deiner vollen Schaffenskraft entdeckt worden. Was bedeutet dir das Schreiben, auch im Gegensatz oder in der Ergänzung zur bildenden Kunst, und was versuchst du in ihm?

Sobald ich schreibe und male, entsteht aus Wahrnehmung (Selbst-)Erkenntnis. Manchmal kommt dabei die Schwelle zum Vorschein, auf der Innen- und Außenwelt verschmelzen. Manchmal wird die Grenze dazwischen schmerzhaft sichtbar. Die Figuren der Wahrnehmung drehen sich um ihre eigene Achse und zeigen verschiedene Ansichten. Sie fallen scheinbar aus dem Nichts aufs Papier wie ein Atemzug ins Schreiben. Wie eine Farbe ins Bild. Wie ein Wort ins Gedicht. Ich schreibe und male in unterschiedlichen „Räumen“. So wie man vom Wohnzimmer in die Küche geht oder in einen anderen Raum. Ich habe auf dem Küchentisch angefangen zu malen. Man kann sagen, dass ich mich sehr lange in der Küche aufgehalten habe, bevor ich es mir erlaubt habe, außer der Küche das Wohnzimmer oder das Schlafzimmer zu benutzen. Mit dem literarischen Schreiben hat sich mein Raum/Radius spürbar vergrößert und damit meine Möglichkeit, das, was mir wichtig ist, vielschichtiger auszudrücken. Ich erlebe es als perfekte Ergänzung zur Malerei.

Gibt es Dichter*innen, die dich in deinem Schreiben beeinflusst haben oder es immer noch tun?

Ich habe schon als Schülerin Ingeborg Bachmann für mich als Vorbild entdeckt, war aber auch abgeschreckt von ihrem frühen Tod und ihrem dramatischen Leben. Es fehlten mir positive weiblichen Vorbilder. Ingeborg Bachmanns sprachliche Kompromisslosigkeit und ihre schöpferische Radikalität haben mir dagegen Mut gemacht. Das gilt auch für Friederike Mayröcker und Unica Zürn. Ihnen verdanke ich die Erkenntnis, dass traditionelle Erzählstrukturen aufgebrochen werden dürfen. Rose Ausländer und Sarah Kirsch spielten lange Zeit eine wichtige Rolle. Außer diesen großen Leitbildern gibt es eine ganze Reihe zeitgenössischer LyrikerInnen, von denen ich begeistert bin. Dazu gehören Anne Carson, Laure Gauthier, Sylvia Geist, Nico Bleutge, Uljana Wolf und du, Ulrike Schrimpf, um nur wenige Namen zu nennen, stellvertretend für viele, deren Arbeit ich sehr schätze.

Gibt es ein Bild in Mondhase an Mondfisch, das du besonders magst?

Die junge Frau auf der Doppelseite 14. Links steht oben auf der Partitur „Promenade“, und rechts trägt die junge Frau ihre Sprachlosigkeit/Atemlosigkeit durch ihr Leben. Dafür steht der Fisch. Er sieht aus wie ein Monster, hat das Maul aufgerissen, denn ein Fisch ist auf dem Trockenen nicht lebensfähig und schnappt nach Luft. Das Bild ist ein Symbol für „Sprachlosigkeit“. Und Sprachlosigkeit bedeutet Isolation. Ferne. Fehlende Identität. Ich erkenne darin die Schwierigkeiten junger Frauen (meiner Generation?) sich selbst zu finden. Erziehung und traditionelle Rollenzuschreibungen machten es Frauen ja sehr lange sehr schwer, einen selbst gewählten Weg (als Künstlerin) einzuschlagen. Von Gleichberechtigung waren/sind wir (in der Kunst) und in großen Teilen der Welt immer noch ziemlich weit entfernt.

Was fasziniert dich an Robert Schumanns Musik?

In der Zeit, als ich wegen meiner sehr angegriffenen Gesundheit im Schweizer Hochgebirge leben musste, trat ein ungarischer Klavierlehrer in mein Leben. Er liebte Robert Schumanns Musik über alles und legte mir dessen „Kinderszenen“ mit seinen langgliedrigen schmalen Händen so unglaublich zart auf die Tasten, dass ich wusste, in dieser Musik ist alles enthalten, was mich bewegt. Mit Hilfe des Klavierlehrers verbesserte sich mein Klavierspiel. Parallel dazu ging es mir gesundheitlich besser. Gesünder zu werden und Schumanns Musik verstehen und spielen zu dürfen, waren unglaublich wichtige Erfahrungen. Seine Melancholie, seine Sehnsucht, seine Liebe und seine Verzweiflung durch seine Musik als tiefe menschliche Gefühle zu begreifen, war ein Geschenk.

Was hat dich so bewegt an Robert Schumanns Briefwechsel mit Clara Wieck, dass du ihn in dein Schreiben integrieren wolltest?

Bewegt hat mich, wie schwer sie es hatten, ihre Liebe leben zu dürfen. Die Dramatik, die sich daraus für ihr Leben ergab. Sehr bewegt hat mich auch Claras Mut, als Pianistin ihre Karriere zu verfolgen, ihr künstlerisches Selbstverständnis zu artikulieren, aber vor allem, ihre Familie durch Konzerte und Klavierunterricht ernähren zu können, nachdem Robert Schumann zu krank dazu war. Clara wurde zu einem positiven Vorbild für mich. Natürlich hat mich die Musik der beiden bewegt und die Offenheit, mit der sie sich schrieben.

Ich habe oben geschrieben, dass mir das lyrische Ich in dem Text auch eines zu sein scheint, das sich tendenziell an den Rändern der Welt bewegt, in einem gewissen beobachtenden Außen und einer Distanz zum zentralen aktiven Geschehen. Kannst du den Eindruck nachvollziehen? Was bedeutet dir diese spezielle Perspektive für dein Schreiben in Mondhase an Mondfisch?

Das zentrale Thema, mit dem ich mich auseinandergesetzt habe, ist das von Nähe und Distanz. (Auslöser dafür war der Beginn der Pandemie.) Das lyrische Ich nimmt eine Distanz zur Welt ein. Muss Abstand halten wie wir voneinander im Lockdown. Gleichzeitig versucht es, den Abstand zum „anderen“ zu überwinden. Aber wie? Mondfisch und Mondhase repräsentieren den Konflikt von Nähe und Distanz. Wie können wir/sie überhaupt zueinander finden? Meine Antwort ist einfach. Durch Musik, durch Kunst, durch Literatur als besondere Formen der Kommunikation.

Johanna Hansen

Was wünschst du dir für deine Kunst und dich, jetzt und in Zukunft?

Ich wünsche mir vor allem, dass meine Gesundheit so stabil bleibt, dass ich meine autofiktionale Biografie schreiben kann.

Was würdest du anderen Künstler*innen raten, die sich noch durchbeißen müssen? Die nicht so leben, wie sie es sich wünschen würden mit ihrer Kunst?

Ich würde nicht auf „Erfolg“ setzen, sondern auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Ich würde dem Puls der Zeit aufmerksam zuhören, ohne mich durch den Zeitgeist festlegen zu lassen. Die innere Übereinstimmung mit sich selbst ist für mich die Voraussetzung für alles weitere. Ich würde Netzwerke bilden und mich bereits vorhandenen Netzwerken anschließen. Kooperationen ausprobieren und das Gegenteil davon. Schreiben (Kunst überhaupt) ist ein einsames Geschäft. Ich würde andere weiterempfehlen, anstatt zu konkurrieren. Den Mut zur Lücke kultivieren. Den Hunger nach Wertschätzung anerkennen, ohne sich von ihm beherrschen zu lassen. All das schließt Umwege und Scheitern ein. Ich würde nicht Literaturpreise und Wettbewerbe zum Maßstab des Erfolgs machen, sondern den Versuch, ganz zu werden durch Erkenntnis und gemeinsames Handeln in dieser zerschundenen, zersplitterten Welt.

Vielen Dank liebe Johanna Hansen und Ulrike Schrimpf für das Gespräch und das Bildmaterial!


  • Johanna Hansen: Mondhase an Mondfisch. Kunstbuch, eine Begegnung von Poesie und Malerei. Neustadt: Wortschau Verlag 2022. 92 Seiten. 69,00 Euro.

[1] Dieses und das folgende Zitat in Großbuchstaben sind Zitate aus dem Briefwechsel von Clara Wieck mit Robert Schumann, die in Mondhase an Mondfisch integriert und zitiert werden.

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