
Der Frage, was Besitz mit uns macht, geht die österreichische Schriftstellerin Lisbeth Exner in ihrem bei Elster & Salis Wien erschienenen Romandebüt Realitätenhandlung nach. In dicht geschriebenen Episoden beschreibt sie jene Neunundvierzig Minuten, so der Untertitel, in denen die Zwangsräumung einer Wiener Altbauwohnung abgewickelt wird.
Sechs Figuren treffen hier aufeinander: Die Mieterin und die Eigentümerin der Wohnung, ein alkoholkranker Gerichtsvollzieher, ein kleinkrimineller Möbelpacker, ein studentischer Mitarbeiter eines Aufsperrdienstes, zunächst desinteressiert, um schlussendlich das Geschehen „supergscheit“ zu kommentieren. Die sechste in der Runde ist ein weibliches Gespenst, das „nicht zu den vertriebenen Seelen“ gehören möchte.
In einer messerscharfen, zart ironischen Sprache seziert Lisbeth Exner das Innenleben der sehr unterschiedlichen Protagonisten. Sie nutzt das düstere Kammerspiel, um Verletzungen, Ängste und Nöte zu zeigen und dabei auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge zu verweisen. In jeder der meist zwei bis sechs Seiten umfassenden Episoden wird die Sicht einer Figur geschildert.
Vor allem die Perspektive der Mieterin berührt, ist sie doch der Zwangsräumung in zweifacher Hinsicht ausgeliefert, einerseits durch ihre schwache Position als Nichtbesitzende, andererseits durch ihre Demenzerkrankung. Ihre Sicht wird im Plural geschildert, denn immer wieder reist sie gedanklich in ihrer eigenen Lebensgeschichte vor und zurück:
Wir wechseln auf alle viere, wippen ein wenig hin und her und krabbeln über den Teppich zum Holzboden vor dem Regal. An einem Brett ziehen wir uns hoch und stehen stolz da. Leider sieht niemand, wie gut wir das schon können. Direkt vor der Nase duften leise die Buchklötze. (…) Diese Halluzinationen! Die sind manchmal schon verstörend. Da haben wir also wieder eine Zeitreise unternommen, diesmal siebeneinhalb Jahrzehnte zurück bis in unser erstes Lebensjahr.
Der Autorin gelingt es, über die Perspektive der Figuren wichtige Themen der Gegenwart und der Zeitgeschichte in den Fokus zu rücken, etwa die Enteignung jüdischen Eigentums. Verdrängtes und Vergangenes stehen im Raum, und so kann die unwahrscheinlichste Protagonistin, der weibliche „durchsichtig flimmernde“ Hausgeist, auch als Symbol dafür gesehen werden.
Während Exner fünf ihrer Figuren sympathische und unsympathische Eigenschaften zugesteht, ist die Eigentümerin der Wohnung eher eindimensional konzipiert. Ihr ressentimentgeladenes Denken, ihr Egoismus und ihre Selbstgerechtigkeit sind schwer zu ertragen, vor allem ihr offenkundiger Rassismus, etwa wenn sie über den Möbelpacker nachdenkt:
Seine aufrechte Körperhaltung flößt ihr Respekt ein. Die Muskeln an den nackten Oberarmen sind angespannt wie bei einem Löwen vor dem Absprung. Natürlich hat sie immer Omas tief verwurzelten Rassismus abgelehnt. Für die gab es nur wilde Tiere jenseits der weißen Rasse und in dieser nur Untermenschen neben den blonden Germanen. Aber wie soll sie ihn nennen? Heutzutage muss man sich ja vorsehen. N… dürfen keine N…, Z… keine Z… mehr sein.
(Im Roman ausgeschrieben, Anmerkung der Rezensentin.)
Solche Bewusstseinsströme einer Figur sind schmerzhaft zu lesen, doch die Autorin nutzt ihre Sprachgewalt, um genau dieses Denken anzukreiden. Der Roman beleuchtet Wohnen und Immobilieneigentum als wichtige politische und soziologische Themen. Neben diesem Problemaufriss versucht sich der studentische Schlüsseldienstmitarbeiter außerdem an Lösungsentwürfen, über die man als Leserin zuweilen gerne streiten möchte.
Dass sich die sechs Akteurinnen und Akteure anlässlich der bevorstehenden Zwangsräumung zusammenfinden, liegt übrigens an der Gefahr, die von Büchern ausgeht: Ganze Stapel gibt es davon in der Wohnung, von den Büchern ist allerdings nicht der Rücken, sondern jeweils nur der nackte vordere Schnitt zu sehen. Die Mieterin ist eine „Bücherwurmtochter“, der Bibliothek des Vaters hat sie noch Zeitschriften- und Prospektsammlungen hinzugefügt.
Um ihre Delogierung zu erwirken, heißt es, die Bücher könnten sich entzünden und würden eine Gefahr für das ganze Haus darstellen. So jedenfalls argumentiert die Eigentümerin der Wohnung – eine promovierte Germanistin, die mit der Literaturwissenschaft zu wenig verdient, um davon zu leben. Elfriede Jelinek bezieht sich auf diese „Gefahr“, wenn sie in ihrem Vorwort zu diesem Roman die Grundthese in wenigen Sätzen verdichtet und die Themen Besitz und Besessenheit ironisch kommentiert:
Besitz kennt keine Regeln, er regelt unser Leben. Er regelt, dass man irgendwo wohnen und schlafen darf. Überall ist man bedroht, durch Erdbeben, Brand, Feuer, wenn zuviel Papier sinnlos herumliegt. Der Besitz läßt einen selbst keine Nacht schlafen, wer weiß, was ihm alles passieren könnte! Oder was einem mit seinem Besitz alles passieren könnte. Lustige Sachen. Versprochen!
elfriede jelinek: Vorwort in „Realitätenhandlung“
Dank an Beate Kniescheck
- Lisbeth Exner: Realitätenhandlung – Neunundvierzig Minuten. Roman. Vorwort von Elfriede Jelinek. Elster & Salis Wien 2022. 144 Seiten, Hardcover mit Bändchen. 18,50 Euro. E-Book: 14,99 Euro.