
Ein Leben an der Front, bei der Armee, unter Bedingungen, die sich kein Mensch so richtig vorstellen kann? Diesen Zustand beschreibt Artem Tschech in seinem Buch Nullpunkt, der den Krieg in der Ostukraine zum Thema hat, lange bevor Putin in die Ukraine einmarschierte. Und doch bedingt der beschriebene Krieg den aktuellen, denn was 2014 mit dem Donbass und der Krim losgetreten wurde, gipfelte in den aktuellen Ereignissen seit dem Februar 2022. Nullpunkt behandelt den Krieg in der Ostukraine aus der Sicht Artem Tschechs, der im zivilen Leben als Autor sein Geld verdient und bis dato schon einige Werke auf Ukrainisch veröffentlicht hat. Auf Deutsch wurde bisher nur das vorliegende Buch im Arco Verlag veröffentlicht. Eine eindringliche Lektüre, die weniger die große Politik beschreibt, sondern vielmehr die Sorgen und Nöte der einzelnen Soldaten im Feld – und das teils lustig, teils erschreckend, teils kritisch.
Die lebhaftesten Träume kommen vor Sonnenaufgang. Normalerweise sind es Träume vom Leben draußen: meine Frau, der Sohn, Leute von früher, Universität, Schule. Diese Träumerei ist verstörend und unbequem, denn beim Erwachen begreifst du, dass du dir schon drei Wochen nicht mehr gehörst. »Wo bin ich? Was bin ich?«, denkst du immer wieder, während du aus dem Schlafsack schlüpfst. »Was wird der neue Tag bringen?«
Artem Tschech war von 2015 bis 2016 als Reservist zuerst in einem Armee-Trainingslager irgendwo in der ukrainischen Pampa und dann an der Front in der Ostukraine, um gegen einen nicht sichtbaren Feind zu kämpfen. Doch auch in den eigenen Reihen lauerten „Gefahren“ wie Alkoholabhängigkeit, Lieferengpässe, unhygienische Bedingungen, Langeweile und vieles mehr. Aus seinem Alltag und einem relativ sorglosen Leben in Kyjiw wird Tschech 2015 jäh herausgerissen, als er einberufen und in der Donbassregion eingesetzt wird. Seine Tätigkeit als Autor kommt ihm dabei zugute, um den militärischen Alltag aus der Sicht eines Soldaten kritisch und ungeschönt darzustellen. Das Resultat liegt mit Nullpunkt nun endlich auch auf Deutsch vor, in der Übersetzung von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck.
In seiner Heimat ist dieser Tatsachenbericht in der Art eines Tagebuchs schon vor einigen Jahren erschienen. Doch könnte er nicht aktueller sein, vielmehr ist es nun noch um einiges schlimmer geworden. Nach der Lektüre mag man sich nicht ausmalen, wie die derzeitige Lage an den verschiedenen Fronten in der Ukraine ist, an der das Material Mensch verheizt wird, nur weil ein despotischer Alleinherrscher meint, ein Land aus fadenscheinigen Gründen überfallen zu müssen, um seine Macht zu sichern.
Eingangs muten die Situationen im Trainingslager durchaus noch lustig, mitunter unfreiwillig komisch an und doch ist unterschwellig immer auch die Angst spürbar, dass es eines Tages losgeht, man nicht weiß, wohin der Einsatzbefehl einen verschlägt und was einen dort erwartet.
Der Krieg wird so lange dauern, bis auch das letzte Waldstück entmint ist und die Checkpoints von wildem Wein oder jungem Ahorn überwuchert sind. Doch bis dahin werden die Soldaten der Nachtwache auf der Mauer stehen und in die kalte Dunkelheit starren. Sie hoffen auf nichts und warten auf nichts. Außer vielleicht auf die Ablöse, den Urlaub oder das Ende des Wehrdienstes.
Artem Tschech ist ein einfacher Soldat und will dies auch bleiben, obwohl ihm oftmals höhere Posten innerhalb seiner Truppe angeboten werden. Doch gerade die Arbeit als einfacher Soldat erlaubt ihm die beobachtende Position, die er in diesem eindrücklichen Bericht einnimmt. Ungefiltert erfahren wir, wie es zugeht in der Armee – und diese Zustände sind in vielerlei Hinsicht einfach nur katastrophal. Zum einen sind viele der Soldaten dauerbesoffen, egal, ob im Dienst oder während ihrer Freizeit. Der Alkohol spielt im Feld eine Rolle als Beschleuniger des Vergessens oder als Ablenkung vom Heimweh beziehungsweise von den Bildern im Kopf. Ferner ist die Versorgung der Front mit allen möglichen Materialien, selbst mit Trinkwasser, problematisch. Diese Zustände lassen die Moral der Soldaten zunehmend sinken.
All das schildert der Artem Tschech in imposanten, maximal vierseitigen Kapiteln. Vom Einberufungsbefehl, über eine fiebrige Ankunft bei seinem Einsatzort bis zum Ende der Dienstzeit, vom Herbst über den Winter bis in den Frühsommer hinein.
Nullpunkt zeigt auf erschreckende Weise, wie zermürbend und langweilig Krieg ist, wenn man direkt an der Front beteiligt ist. Das soll nicht bedeuten, dass Krieg nichts Schlimmes ist, im Gegenteil. Viele Menschen leiden darunter, auch die Soldaten, aber genau aus deren Sicht ist es zu 80 Prozent ein Job, der aus Warten und Anspannung und zu 20 Prozent aus Kämpfen besteht. Und diese 80 Prozent beschreibt Artem Tschech sehr prägnant. Nullpunkt ist ein Buch, das man in diesem Herbst unbedingt gelesen haben sollte.
Dank an Marc Richter
- Artem Tschech: Nullpunkt. Mit Bildern von Brendan Hoffman. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck. Wuppertal: Arco Verlag 2022. 200 Seiten, Papernback. 20 Euro.