Olga Ravn: Die Angestellten (MÄRZ Verlag)

Zeugenaussage 031
Ich bin noch nie nicht angestellt gewesen. Ich bin dazu geschaffen zu arbeiten. Ich habe auch nie eine Kindheit gehabt, aber ich habe versucht, mir eine vorzustellen. Mein menschlicher Kollege spricht manchmal davon, nicht arbeiten zu wollen, und dann sagt er etwas sehr Merkwürdiges, etwas ganz Albernes, er sagt 𝑀𝑎𝑛 𝑖𝑠𝑡 𝑚𝑒ℎ𝑟 𝑎𝑙𝑠 𝑠𝑒𝑖𝑛𝑒 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡, 𝑜𝑑𝑒𝑟 𝑤𝑎𝑟 𝑒𝑠 𝑚𝑎𝑛 𝑖𝑠𝑡 𝑛𝑖𝑐ℎ𝑡 𝑏𝑙𝑜ß 𝑠𝑒𝑖𝑛𝑒 𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡? Aber was sollte man sonst sein?

Die dänische Lyrikerin Olga Ravn wirft uns mit ihrem ersten Roman Die Angestellten, brandneu erschienen im MÄRZ Verlag, ins 22. Jahrhundert auf ein Raumschiff mit Menschen, Humanoiden und rätselhaften Gegenständen. Ätherisch-poetisch lesen sich die nüchtern gehaltenen Miniaturen aus dem Weltall. Sphärisch hallen die nummerierten Zeugenaussagen der Besatzung von Schiff Sechstausend in uns wider. Es soll dort untersucht werden, welche Beziehungen die Angestellten mit den Gegenständen haben mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsabläufe und der Produktivität. Die Forschenden bleiben unsichtbar und greifen scheinbar nicht ein in das Geschehen und die Objekte ihrer Untersuchung, oder sind es Subjekte

Zeugenaussage 022
Mir wurde gesagt, es gäbe ein Problem mit meinem emotionalen Reaktionsmuster (…) Ich soll meine kognitive Flexibilität trainieren, wenn ich auf Augenhöhe mit denen, die geboren wurden, Teil der Besatzung sein will. Ist dieses Problem 𝑚𝑒𝑛𝑠𝑐ℎ𝑙𝑖𝑐ℎ? In dem Fall würde ich es gern behalten.

Die erforschte Besatzung des Raumschiffs, das sind Die Angestellten. Was sie arbeiten, wofür ihre Produktivität aufrechterhalten und gesteigert werden soll, wird kaum berichtet. Sie haben Aufgaben zugewiesen bekommen und sie alle versuchen, ihre Sache gut zu machen. 
Einige Angestellte sind von der Erde, aus einem Menschen geboren, andere sind humanoid, künstliche Wesen, die den Menschen ganz ähnlich sind, aber effizienter, vermeintlich anders vom Wesen her, und sie haben keine Vergänglichkeit – vermeintlich. 
Die Angestellten reisen durch das Universum, sie sind alle bemüht, störende Gedanken, Impulse und Gefühle zu unterdrücken, Fehlbarkeiten und Fehlprogrammierungen auszulöschen. 

Zeugenaussage 067
(…) Warum hab ich all diese Gedanken, wenn ich doch vor allen Dingen eine technische Aufgabe lösen soll? Warum habe ich diese Gedanken, wenn es vor allen Dingen meine Aufgabe ist, die Produktion zu erhöhen? Aus welcher Perspektive sind diese Gedanken 𝑝𝑟𝑜𝑑𝑢𝑘𝑡𝑖𝑣? Ist ein Fehler beim Update passiert? In diesem Fall möchte ich gerne neu gestartet werden.

Der Plot entspinnt sich durch die Miniaturen hindurch. Es gibt Objekte, organische Gegenstände von einem Planeten, die eine magische Gravitationskraft ausüben. Sie evozieren Träume, Sehnsüchte, romantische Gefühle, Triebe, Wut, die durch die Zeugenaussagen der Angestellten schwirren und die Koordinaten durcheinanderbringen. Eine vielstimmige Unruhe macht sich breit, im Verlauf des Romans werden die Aussagen immer vielfältiger, kritischer, dringlicher und lauter. Es baut sich die Ahnung auf, irgendetwas ist passiert, das alles verändert, der Kontakt zur Homebase, zum Creator ist vom Kurs abgekommen. 

Zeugenaussage 021
Ich weiß, dass ihr sagt, ich sei ein Gefangener hier, aber die Gegenstände haben mir etwas anderes erzählt.

Ohne die Künstlerin Lea Gulditte Hestelund würde das Buch nicht existieren, so Ravn. Schaue sie auf deren Skulpturen und Installationen, verstehe sie sofort, wieso, denn sie wirkten organisch, auf eine Art erotisch anziehend und wie aus einer anderen Welt. Ravn findet eine Entsprechung in den Gegenständen und in ihrer Sprache, die zugleich nüchtern, wissenschaftlich reporthaft und warm poetisch klingt. Ist Die Angestellten in der Tradition von Science-Fiction, Prosa, Popliteratur, Lyrik zu sehen? All das und jenseits davon. Es ist eine Freude für autofiktionsmüde Leser:innen wie mich, diese hoffnungsvoll subversive Dystopie aus dem Weltall der Zukunft zu lesen.

Das Streben nach Steigerung von Produktivität, die Konzentration auf Lohnarbeit und Sachzwänge werden der subversiven Kraft der Kunst, der Liebe, des Übersinnlichen gegenübergestellt. Eigentlich sind die Gedanken der Angestellten nicht neu. In Ravns Text wirken sie aber frisch, als hätte ich sie das erste Mal gehört. Wir können Dystopien von Frauen als aktuellen Trend betrachten, mir fallen spontan einige weitere ein, auch einige, die sich zwischen den Genres bewegen. Aber lesen sie sich wie Ravn? Mit diesem Gefühl für Sprache, Form und Symbolik? Nein, keine kann schreiben wie sie, und einen Perfektionisten wie Alexander Sitzmann als Übersetzer aus dem Dänischen zu gewinnen, hat sicherlich geholfen, dass der Text auch im Deutschen großartig ist. Völlig zu Recht ist Olga Ravn der internationale Durchbruch gelungen. In der englischen Übersetzung landete Die Angestellten 2021 auf der Shortlist des Booker Prizes.

Dank an @Kata_____Lović (Foto Wikilmages)

  • Olga Ravn: Die Angestellten. Ein Roman über Arbeit im 22. Jahrhundert. Aus dem Dänischen von Alexander Sitzmann. Berlin: MÄRZ Verlag 2022. 144 Seiten, gebunden, 18,4 × 11,5 cm. 20 Euro

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