Nina Bouraoui: Erfüllung (Elster & Salis 2022)

Erfüllung ist der zweite Roman der preisgekrönten französischen Schriftstellerin Nina Bouraoui, der im Züricher Verlag Elster & Salis auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein sinnlicher und beklemmender Roman über das Scheitern, die Geschichte von verlorenen Träumen, einer erloschenen Liebe und der Flucht aus der Enge der Gegenwart in eine abgeschottete Parallelwelt. Seine Sprache ist außergewöhnlich. Ein Stakkato durchsetzt mit Sätzen wie rankende Kletterpflanzen.

Algier 1977: Michèle Akli, eine 38-jährige Französin, folgt ihrer großen Liebe Brahim nach der Unabhängigkeit 1962 in seine Heimat Algerien. Aus dieser erwächst die Liebe zu einem Land, seinen unwiderstehlich schönen und rauen Landschaften, Farben und Düften. Die Realität in der Fremde ist jedoch eine andere als die erträumte.  Das französisch-algerische Paar wird mit Argwohn beäugt. Michèles Freiheit als Frau ist durch die religiöse Miliz stark eingeschränkt. Wer ist sie noch als Individuum in dieser fremden Welt? Auch Brahim leidet unter den Repressionen des autoritären Regimes und fühlt sich minderwertig im noch immer französisch geprägten Algerien.

Hier, mit Sonnenbrille, breitem Hut und wallender Kleidung, bin ich keine Frau mehr und habe keinen Anteil an der Macht der Männer über Menschen und Dinge. Den Männern gehört die Stadt, und selbst die Natur in ihrer Größe und Schönheit ist ihre Komplizin und bietet Gelegenheit für einen Hinterhalt. (…) Durch Algier gehen, heißt, sich dem Trieb der Männer auszusetzen, ihn zu provozieren.

Michèle hat keine Aufgabe, zu viel Zeit mit sich allein und Langweile. Wenn morgens ihr Sohn und Mann das Haus verlassen, bleibt sie in der Stille zurück, einer ganz und gar betäubenden Einsamkeit. Mit der Pflege ihres opulenten Gartens vertreibt sie ihre Gespenster. Am Abend betäubt sie sich mit Alkohol. Die Liebe zu Brahim ist erloschen, geblieben ist der Alltag. Nach Frankreich zurückzukehren, ihren Sohn mitzunehmen und ihren Mann „im Land der Traurigkeit“ zurückzulassen, dazu fehlen ihr der Mut und die Vorstellungskraft. Sie ist gefangen zwischen den Welten in einem gescheiterten Leben. Nach Frankreich gehört sie nicht mehr, in ihrer neuen Heimat ist sie eine Fremde geblieben.
Erfüllung findet Michèle ausschließlich in ihrer exklusiven und krankhaften Liebe zu ihrem 10-jährigen Sohn Erwan. Er ist ihre einzige Verbindung in das Leben, ihr Halt, ihre Zukunft, ihr Sinn.

Mein Sohn ist mein Fleisch und meine Milch. (…) Mein Sohn ist meine zweite Haut, durch ihn werde ich erleben, was ich nicht erleben konnte. (…) Mein Sohn lebt in der Zukunft, und ich habe schon lange keine mehr.

Eifersüchtig beobachtet sie die immer enger werdende Freundschaft Erwans zu einem Mädchen mit dem Spitznamen Bruce. Bruce ist ein androgynes, besonders Kind. Die Angst, Erwan zu verlieren, wird für Michèle zur Obsession. In ihrem Wahn stellt sie sich Bruce als weiblichen Dämon vor, der ihren Sohn stiehlt und beschädigt. Sie lernt die Mutter von Bruce kennen, eine moderne Französin, zu der sie sich wollüstig hingezogen fühlt. Michèle ist sich ihrer krankhaften Wahrnehmung bewusst, schämt sich ihrer Gedanken und hat niemanden, mit dem sie sie teilen kann. Nur das Schreiben ihrer Tagebücher gibt ihr Halt.

Die Autorin hat eine ganz eigene Sprache geschaffen, nüchtern und schillernd zugleich. Sie spiegelt den Widerspruch zwischen der trostlosen Alltagswelt der Protagonistin und den leidenschaftlichen Irrungen ihres Geistes. Kurze, abgehackte Sätze wechseln sich ab mit intensiven, hoch poetischen Passagen.

Ich verriegele das Gartentor und gehe durch die Garage, das Auto steht draußen. Ich prüfe, ob mich jemand beobachtet, ich spüre etwas, aber das Gefühl der Angst, der Bedrohung hat mich nun verlassen.

Nach dem Lesen verbleibt ebendiese beklemmende Stille, die Michèle in ihrer übersteigerten Melancholie zu überwinden unfähig ist. Es gibt keine Veränderung, keine Entwicklung in ihrem Leben wie im Roman. Was zunächst unbefriedigend erscheint, macht gerade den Reiz des Buches aus. Der Roman gibt keine Lösung vor. Die Sehnsucht nach Erfüllung bleibt ungestillt. Wie so oft in der Realität brodelt es im Inneren, nach außen bleibt der Aufruhr unbemerkt. Die eigene Kraft reicht für Veränderung nicht aus. Michèle ist das Opfer ihrer verzerrten, subjektiven Wahrnehmung. Der Text wirkt nach, die objektive Instanz erschafft sich der Leser durch Reflexion selbst.

Dank an Nikoletta Kiss

  • Nina Bouraoui: Erfüllung. Aus dem Französischen von Nathalie Rouanet. Zürich: Elster & Salis 2022. Gebunden, 15.5 x 22.3 cm, 226 Seiten. 24,70 Euro. E-Book 14,99 Euro.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s