
Es gibt Leute, die sehr offen über ihre Wehwehchen sprechen, während andere in Krankheiten eher etwas Privates sehen und es vorziehen, im Verborgenen zu leiden. Auch das Empfinden von Schmerzen ist sehr individuell. Was viele vielleicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit treibt, ist für ihre weniger schmerzempfindlichen Mitmenschen nur halb so schlimm. Die Tatsache, dass Schmerzen so unterschiedlich wahrgenommen werden, macht es ungemein schwer, die richtigen Worte zu finden, um das eigene Leiden für andere nachvollziehbar zu machen.
Zusammengetragen unter dem Titel La Doulou dokumentierte der französische Romancier Alphonse Daudet (1840–1897) zwischen 1887 und 1895 seine fortschreitende Syphilis-Erkrankung. Bereits in jungen Jahren hatte er sich mit der Krankheit angesteckt, die sich erst rund dreißig Jahre später bemerkbar machte. In Anekdoten und Tagebucheintragungen schildert Daudet die ganze Bandbreite seiner Symptome. Detailreich lässt er die Lesenden an seinem Leiden teilhaben: Mal vergleicht er den Schmerz mit dem Nagen spitzer Rattenzähne, dann wieder mit Fäden, die an seinen Gliedmaßen ziehen.
„Der Schmerz führt ein Eigenleben.“ Bei Daudet nimmt der Schmerz fast menschliche Züge an, er wird zum Antagonisten, der sein Opfer gnadenlos abtastet und dabei immer wieder neue Stellen findet, wo er sich einnisten kann. Die Symptome, die er bei sich selbst und bei seinen Leidensgenossen beobachtet, gleichen Folterwerkzeugen. So beschreibt Daudet sein Leiden etwa als Feuerzange oder als Spanischen Stiefel. Der Schmerz quält sein Opfer durch Brennen, Stechen, Ziehen. Er raubt ihm seinen Atem und seinen Schlaf, vernebelt seinen Blick und macht seine Füße gefühllos.
Überall dringt der Schmerz vor, in meine Wahrnehmung, meine Gefühle, mein Urteilsvermögen: eine Infiltration.
Der Schmerz ist in Daudets Notizen allgegenwärtig und dennoch macht sich zwischen den Zeilen auch ein ungebrochener Sinn für Humor bemerkbar. Vor allem im zweiten Teil des Bandes, in Daudets Aufzeichnungen während eines Aufenthalts an einem Kurort für Nervenkranke, zeigt sich die scharfe Beobachtungsgabe des Autors, wenn er fast schon karikierend, aber stets auch mitfühlend Patient*innen und Besucher*innen beschreibt.
Die Originalausgabe von La Doulou erschien erst 1930, mehr als dreißig Jahre nach Daudets Tod. Die deutsche Fassung einer von Julian Barnes behutsam kommentierten Neuauflage ist nun unter dem Titel Im Land der Schmerzen im Berliner Alexander Verlag erschienen.
Der schmale Band präsentiert sich als zeitloses Dokument, als literarisches Meisterwerk, das auch fast hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen nichts von seiner eindringlichen Wirkung eingebüßt hat.
Es ist vor allem der nüchterne Stil, mit dem Daudet sein Krankheitsbild beschreibt, der die Schmerzen nachvollziehbar macht. Die weitgehend emotionslose bildhafte Sprache veranschaulicht die Hilflosigkeit, mit der er sich dem heimtückischen Schmerz ausgeliefert sieht, und lässt die Lesenden mitleiden. Doch die Reise ins Land der Schmerzen wäre unerträglich ohne den unvergleichlichen Wortwitz des Reiseführers. Noch unter größten Qualen zwingt sich der Autor mit Hilfe von Morphium und Chloral dazu, täglich ein paar Stunden weiterzuschreiben. Von der unbändigen Schaffenskraft des Autors geht eine magische Faszination aus. Selbst wenn der Schmerz Daudet attackiert und ihn beinahe verstummen lässt, ringt er sich noch Worte ab und spricht aus, was unaussprechlich zu sein scheint.
Dank an Barbara Seidl
- Alphonse Daudet: Im Land der Schmerzen. Eingeleitet und kommentiert von Julian Barnes. Aus dem Französischen von Dirk Hemjeoltmanns und aus dem Englischen von Bernhard Liesen. Berlin: Alexander Verlag 2022. 124 Seiten, Klappenbroschur. 16,90 Euro.