Hotlist22-Kandidat: Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht (Verbrecher Verlag)

Foto (c) Simone Gatterwe

In Viktor Funks Roman Wir verstehen nicht, was geschieht aus dem Verbrecher Verlag geht es um ein großes Thema – das Gulagsystem der Sowjetstaaten unter Stalin und was es mit den Menschen gemacht hat, die davon betroffen waren, sei es als Gefangene oder auch als Wärter. Funk rückt Menschen in den Mittelpunkt, die diesen Mordapparat Stalins überlebt haben, und fiktionalisiert ihre Geschichten. Mit allem Herzblut, das merkt man jeder einzelnen Seite an. Es geht zwar vornehmlich um ein einzelnes Schicksal, aber der Autor, ein gebürtiger Kasache, bringt auch noch anhand von eingebauten Interviews andere Stimmen zum Klingen, sodass ein vielfältiges Bild davon entsteht, wie tiefgreifend die Deportationen von politischen Feinden in die russische Gesellschaft und Seele eingegriffen hat.

Alexander spürte wieder die Müdigkeit. Er schaute auf die Uhr, kurz nach eins. Nur noch vier Stunden bis Petschora. Er schloss das Notizbuch, schaltete das kleine Licht aus, hörte in der Dunkelheit, wie Lew atmete, und schlief ein.

Wir lernen in dem Roman den jungen Historiker Alexander List kennen, der zu den Gulags, speziell zu den Menschen forscht, die in dem System aufgrund ihrer politischen Gesinnung oder weil sie der politischen Führungsebene im Weg standen, gefangen waren und in die entsprechenden Lager deportiert wurden.
Einer dieser Menschen war Lew Mischenko, ein Physiker, der während des Zweiten Weltkriegs bei den Nationalsozialsten in Kriegsgefangenschaft geriet, nach dem Krieg bei den Amerikanern unterkam und von ihnen vor die Wahl gestellt wurde, in seine russische Heimat zurückzukehren oder nach Amerika auszuwandern. Lew wollte in seine Heimat zurück, denn dort war sein Zuhause und es wartete auch seine Freundin Swetlana auf ihn. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wahrscheinlich alle, die aus der Kriegsgefangenschaft in die russische Besatzungszone zurückkehrten, sofort als politische Feinde gefangen genommen würden, was dann auch eintraf. In absurder Weise wurde ihm Spionage vorgeworfen und ein Geständnis mit allerlei Tricks in die Schuhe geschoben. Es war politisch nicht gewollt, dass ehemalige Kriegsgefangene der Deutschen ihr altes Leben wieder aufnahmen. Nein, vielmehr griff Paranoia um sich während der Stalinzeit. Überall waren Feinde, selbst oder gerade in den eigenen Reihen. Und so wurde Lew zu zehn Jahren Gefängnislager verurteilt.

So erging es damals vielen. Doch was Lew für Alexander so interessant macht, ist der Fakt, dass er all die Briefkorrespondenz mit seiner zukünftigen Frau Swetlana aufhob und diese nicht durch die Lagerleitung zensiert wurde. So kann Alexander einen ungetrübten Blick auf die Gefühle zweier Personen einnehmen, die durch das System in ihrer Freiheit extrem eingeschränkt waren, ständig damit rechnen mussten, dass es für Lew vorbei sein und sie sich nie wiedersehen könnten, und trotzdem die Hoffnung nie aufgaben. Doch die Bedingungen wurden für die beiden immer günstiger und als Stalin starb, wurde eine Generalsamnesie erlassen und Lew war ein freier Mann.
Er ist bereit, mit Alexander die Interviews zu führen, und überredet ihn außerdem zu einer Fahrt an den Ort, an dem er interniert war. Als Gegenleistung überlässt er Alexander all seine Korrespondenz, die er mit Verwandten, Swetlana und auch mit ehemaligen Wärtern in dieser Zeit führte. Alexander treibt bei seiner Forschung vor allem eine Frage um: Wie kann man aus dieser schrecklichen und fast hoffnungslosen Zeit herausgehen und trotzdem ein glückliches und erfülltes Leben führen? Kann Lew ihm diese Frage beantworten?

Das Buch ist mit seinen knapp über 150 Seiten recht schmal und die geradlinige Grundstory schnell erzählt. Aber es steckt so viel mehr darin. Funks Roman könnte vielmehr als Einstieg in eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik dienen, die aktuell leider wieder unter dem Deckmantel des Schweigens begraben wird. Er hat auf jeden Fall den Blick geweitet. Die Sprache ist nüchtern, transportiert aber emotionale Themen, die niemanden kalt lassen können.

Noch eine weitere Schicht kommt in diesem Werk zum Tragen: die Geschichtsvergessenheit Russlands, ob nun politisch gewollt oder aus Bequemlichkeit. Die Geschichte des Landes ist durch Stalin und seine Schreckensherrschaft aus Brutalität, Neid und Verrat bis heute geprägt. Ganze Generationen bekommen nicht die Chance, sich angemessen mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Einige Organisationen versuchen vergeblich das Gedenken am Leben zu erhalten. Vielmehr verwahrlosen die Orte, an denen die Gulags standen, wurden und werden dem Verfall preisgegeben oder müssen neuen Bauvorhaben Platz zu machen. Im Vorfeld der Veröffentlichung seines Romans veröffentlichte Viktor Funk einige Twitter-Nachrichten zum aktuellen Stand, wie man aktuell in Russland an Informationen zum System Gulag herankommen könnte. Kurz gesagt: Es sieht düster aus.

Das macht solche Bücher wie Wir verstehen nicht, was geschieht umso wichtiger für die Aufrechterhaltung des Gedenkens an diese grausame Zeit des Stalinismus. Eine ebenso lohnende wie spannende und lehrreiche Lektüre.

Dank an Marc Richter von We read Indie

  • Viktor Funk: Wir verstehen nicht, was geschieht. Berlin: Verbrecher Verlag 2022. Hardcover, 156 Seiten. 20 Euro

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s