
Was ist schon so ein Frauenleben! Jeden Monat streichst du das Datum im Kalender an und wartest wie der gütige Gott, dass es losgeht, gute Tage hast du nur, wenn du eklig bist. Es sei denn, du sparst dir den Mann oder bist eine Lesbe, nur dann kannst du sicher sein, dass du nicht reinfällst; und direkt danach hast du Angst, Angst, du wachst auf und hast Angst, du fühlst deinen Bauch am Tag und in der Nacht; du plackst dich ab, du sorgst dich, du hast Angst.
Was für eine unglaubliche Entdeckung, was für ein eigenartiges, eigenartig revolutionäres Buch, was für eine schriftstellerische und übersetzerische Meisterleistung! Die Übersetzerin Norma Cassau und der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis haben mit dem Roman Madame 60a einen literarischen Schatz aus Frankreich gehoben, der zugleich ein aufwühlendes Stück Zeit-, Kultur- und Sozialgeschichte darstellt. Ich habe ihn „à bout de souffle“ gelesen, atemlos, und ja, ich bin hin und weg von diesem Buch und wünsche ihm alle Leser*innen und Auszeichnungen dieser Welt.
Von Henriette Valet (1900–1993), der französischen Schriftstellerin und Journalistin, die das Buch verfasst hat, die über Jahrzehnte hinweg in der Versenkung verschwunden war und deren Namen man deshalb in keinem Literaturlexikon finden wird, sind nur drei Texte bekannt: der vorliegende Roman, der 1934 bei Grasset erschien, der Roman Le mauvais temps und das Theaterstück L’Île grande, das 1946 in Paris aufgeführt wurde. In den folgenden fünfzig Jahren bis zu ihrem Tod verliert sich jede literarische Spur von ihr – nicht zu glauben, bedenkt man, dass der Roman nicht nur bemerkenswerte literarische Qualitäten hat, sondern mit seinem Sujet auch ein Feld bearbeitet, das, so weit ich sehe, bis in die heutige Zeit seinesgleichen sucht in der Literatur: Schwangerschaft und Geburt.
Madame 60a stellt das Geschehen auf dem Dachboden des Hôtel-Dieu dar, des ältesten Krankenhauses von Paris, auf dem Schwangere jeglicher Art dicht an dicht auf die Geburt ihrer Kinder warten: Schwerkranke, die an Tuberkulose leiden, ledige, teilweise sehr junge Frauen, mittellose Arbeiterinnen, Obdachlose, Verheiratete, Verlassene, Huren, Jüdinnen, Atheistinnen und Polinnen, die nach dem Ersten Weltkrieg auf Einladung von französischen Unternehmen nach Frankreich kamen, um dort zu arbeiten, und im Erstarken des französischen Nationalismus als allzu billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt angesehen und verteufelt wurden.
Abgeschlossen von Licht, Luft und dem normalen Leben – in einer ergreifenden Szene drängen sich die Frauen an den Dachfenstern und berichten gierig von dem Treiben auf der Straße, an dem sie wochen- und monatelang nicht teilhaben können – harren die Schwangeren in Zuständen aus, die aus heutiger Sicht befremden, aufwühlen und abstoßen. Dennoch können alle froh sein, im Hôtel-Dieu aufgenommen worden zu sein: Die einzige Alternative wäre für sie die Straße, und damit wäre das eigene Leben und das der in ihren Bäuchen wachsenden Kinder noch mehr bedroht.
In ausdrucksstarken, teilweise expressionistisch anmutenden Bildern und einer sinnlich-kühnen Sprache beschreibt Valet die Versehrtheiten der Körper und Seelen der Frauen. In intensiven Szenen lässt sie aber auch ihre Sehnsüchte und Hoffnungen aufleben und schildert kleine Freuden und Albernheiten wie gemeinsame Besäufnisse und die allabendliche „Revue“, bei der die Schwangeren in einem ohrenbetäubenden Spektakel nacheinander ihre Bäuche präsentieren. Auch das gemeinsame Waschritual am Morgen, das einerseits ein schmutziges Unterfangen fern von jeglicher Privatsphäre ist, andererseits für viele auch ein ungekannter Luxus, sind sie es doch nicht gewöhnt, ausreichend Wasser zum Waschen zu haben, schildert Valet eindringlich:
Ich öffne eine Tür. Eine Wolke raubt mir den Atem. Erst sehe ich nur weißen Dunst; nach und nach unterscheide ich verformte und nackte Körper, die sich im Dampf bewegen, auftauchen und verschwinden. Der Dunst ist voller Lärm. Wie ein Tiegel, in dem Verdammte, Föten und Hexen schmoren.
Die Schriftstellerin erzählt vom Horror der Fehlgeburten, die nicht etwa vor allem eine Zumutung sind, weil die Frauen durch sie möglicherweise Kinder verlieren, auf die sie sich gefreut haben, sondern weil sie nicht wissen, wie und wo sie die Kadaver entsorgen sollen, ohne dafür bestraft zu werden:
Eine Fehlgeburt ist keine große Sache, was schwer ist, wie man das Ding loswird. Es verstopft die Toilette, das gibt Ärger mit dem Vermieter, könnt ihr mir glauben. Behalten kann man es auch nicht. Es zu verbrennen, dazu hatte ich nie den Mut! Man muss es in die Kanalisation schmeißen oder in die Seine. Aber ihr könnt euch nicht vorstellen, was da manchmal an Polizei unterwegs ist auf den Brücken, wenn man was vorhat. Als hätten die eine Truppe nur für Fehlgeburten!
Madame 60a zeigt den Leser*innen die Existenz der Schwangeren aus allen möglichen Perspektiven und in einer bewunderungswürdigen Vielfalt von Persönlichkeiten und sprachlichen Registern: so wohlgefeilt und glasklar die Sprache der Schriftstellerin sein kann, so wild, grell und surreal ist sie an anderer Stelle. Auch die verschiedenen Stimmen der Schwangeren setzt die Autorin lebendig voneinander ab; sie beherrscht die mündliche, auch vulgäre Umgangssprache ebenso wie die literarisch-schildernde. An dieser Stelle soll denn auch Raum sein, der überragenden Leistung von Norma Cassau Tribut zu zollen, die u. a. Houellebecq übersetzt hat – es ist ein schierer Genuss, ihre Übersetzung zu lesen, die durchgängig von geschmeidiger, feinfühliger Formulierungskunst zeugt.
In ihrem Nachwort zu dem Roman legt sie dar, aufgrund welcher Aussagen Valets selbst davon auszugehen ist, dass die Autorin in dem Roman eigene Erfahrungen verarbeitet. Möglicherweise auch aus diesem Grund wählt die Schriftstellerin als Erzählerin eine eigentümlich zurückgezogen und verschlossen bleibende Frau, die sich durchgehend in einer gewissen Distanz zu den anderen Schwangeren erlebt und deren Verhalten aus einer übergeordneten Perspektive reflektiert und kommentiert.
Der Titel des Buches, Madame 60a, bezieht sich so auch auf die Tatsache, dass für diese Erzählerin kein Bett mehr frei war und daher – ein gängiges Verfahren – eine Zusatzliege zwischen Bett 60 und 61 eingeschoben werden musste. Von dem Moment an ist „Madame 60a“ ihr im Krankenhaus gültiger Name. Genauso tragen auch die anderen Schwangeren keine wirklichen Namen, sondern werden als „Schnüfflerin“, „Hure“, „Minna“, „Jüdin“, „Halbverrückte“ oder schlicht mit dem Ländernamen „Polen“ in versachlichenden Kategorien zusammengefasst, die ihnen auf unerbittliche Art und Weise auch das Letzte nehmen: ihr Anrecht auf eine individuelle (Leidens-)Geschichte.
Das quasi-objektive Erzählen und Kommentieren aus der auktorialen Perspektive könnte als einziger Wermutstropfen des Romans angesehen werden. Möglicherweise würde der Text noch unmittelbarer und roher wirken, wenn er nicht teilweise durch die Erzählerin „erklärt“ würde. Andererseits wird auf diese Weise der dokumentarisch-realistische Charakter des Buches noch intensiver spürbar, was wiederum seinen eigenen Reiz hat und eine besondere Form von Gravität mit sich bringt.
Dank an Ulrike Schrimpf
- Henriette Valet: Madame 60a. Aus dem Französischen übersetzt und benachwortet von Norma Cassau. Berlin: Verlag Das Kulturelle Gedächtnis 2022. 14 × 21,5 cm, gebunden. 232 Seiten. 24 Euro