
Noch während der Lektüre von Wolken über Taiwan überschlugen sich die Ereignisse in der Inselrepublik. Nancy Pelosi, die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, war nach Taiwan gereist, was seitens Chinas nicht gern gesehen wurde, denn es erkennt Taiwan nicht als eigenständigen, souveränen Staat an, sondern vielmehr als eine abtrünnige Provinz seines Reiches. Dabei erlebt Taiwan eine sehr florierende Demokratie, darf aber aufgrund seines Status und den ewigen Drohgebärden vom Festland her an keiner der demokratischen Institutionen dieser Welt teilnehmen, wenn nicht schwerwiegende diplomatische Krisen hervorgerufen werden wollen. Allein der Besuch der US-Politikerin hatte eine tagelange kriegerische Übung des chinesischen Militärs in der Meeresstraße zwischen China und Taiwan zur Folge.
Frieden gebe es nur, wenn beide Seiten daran interessiert seien, mailt sie zurück. Und wenn die eine Seite immer aggressiver agiere und den Bedrohungspegel anhebe, habe das Reden über Frieden keinerlei Bedeutung. Mit Aufrüstung werde Abschreckung bewirkt, damit eine Invasion für China teurer wird.
aus: kapitel f wie frieden
Mitten in diese politischen und kriegerischen Muskelspiele fiel also die Lektüre von Wolken über Taiwan von Alice Grünfelder, das im Frühjahr im Zürcher Rotpunkt Verlag erschienen ist. Dabei lässt uns die Autorin mit ihren Notizen aus einem bedrohten Land, so der Untertitel, teilhaben an ihrem sechsmonatigen Aufenthalt im Jahr 2020, und zwar in Stichpunkten von A wie Abschied oder Armut bis Z wie Zeit oder Zeichen. Entstanden ist dabei ein buntes, interessant zu lesendes Kaleidoskop aus Alltagsnotizen und Schreckensszenarien verschiedenster Art.
Während ihres Aufenthalts lebte Grünfelder in der Hauptstadt Taipeh und so entstanden viele ihrer Alltagsbeobachtungen aus dem Leben in dieser Stadt heraus. Kleine Erinnerungen an ein Ankommen, an ein „nicht mehr wegwollen“, an Unternehmungen in dieser Zeit. Es wechseln sich recht banale Begebenheiten, wie der Yogakurs, die Trainingseinheiten auf dem Drachenboot, Besuche verschiedener Kloster oder Teestuben, ab mit grundsätzlich politischen und kulturellen Ereignissen, die einzigartig sind, denn Taiwan wird zwar als einer der demokratischsten Staaten der Erde gepriesen wird, ist zugleich aber auf der Weltkarte isoliert.
An einer bestimmten Stelle in ihrem Werk, das einen tagebuchartigen Charakter besitzt, schreibt Grünfelder, dass sie eigentlich gar keine Notizen zu diesem Aufenthalt habe machen wollen, da man sich zu sehr exponiere mit Belanglosigkeiten, die sich dann doch immer wieder wiederholten. Doch irgendwann ergab sich das Schreiben ganz automatisch und irgendwann ist daraus eine Buchidee entstanden.
Ich sitze auf einem Balkon unseres Hotelzimmers in Hengchun und sehe einen Zettel an der Wand. Eine Anleitung, wie man eine Hängematte aufhängt, denke ich im ersten Augenblick, doch ist der Balkon dafür nicht ein wenig zu schmal?
Ich stehe auf und betrachte den Zettel genauer. Er erklärt, wie man sich im Notfall mit einem Seil vom Balkon herablassen kann.
Aus: kapitel n wie notfall
Alice Gründfelder zeigt anhand von Interviewschnipseln und ihren eigenen Beobachtungen auf, wie gelassen die Bevölkerung Taiwans auf das Säbelrasseln des großen Nachbarn reagiert. Während alle mit dem Finger auf andere zeigen, reagieren die, die es direkt betrifft, am gelassensten. Gerade diese Passagen, gelesen mit dem Wissen um die aktuellen Ereignisse, wirken beim Lesen am meisten nach. Dabei sind es ja nicht nur die kriegerischen Drohungen, die auf dieser Insel ständig präsent sind, sondern auch die Natur, die mit Taifunen, Erdbeben und einem Meer aufwartet, das nicht gerade freundlich gesinnt zu sein scheint.
Der 2-28-Park ist wie das Zentrum meines Kreisens auf der Suche nach Dechiffrierung. Immer neue Fragen haben sich im Laufe der letzten Wochen und Monate angesammelt.
Aus: Kapitel Z wie 2-28
Und so bekommt man mit Wolken über Taiwan einen Querschnitt aus all diesen Erfahrungen, die Alice Grünfelder während ihres Aufenthalts gemacht hat samt nachträglicher Recherchen. Zusätzlich ziert jedes Kapitel mindestens eine Fußnote mit Anmerkungen oder weiterführenden Referenzen, auf die man sich nach dem Lesen stürzen kann, um den eigenen Blick auf die Insel am anderen Ende der Welt zu lenken und sich einzulesen in diese mehr als wechselhafte Geschichte eines Landes, das ständiger Gefahr ausgesetzt ist, und gerade deshalb gelernt hat, auch in brenzligen Situationen entspannt zu bleiben. Das könnte auch für die westliche Welt eine überaus gewinnbringende Herangehensweise sein, um aus vielen Handlungen die Hektik und Polemik herauszunehmen, die uns oftmals an den Rand der diplomatischen Verzweiflung bringt.
Dank an Marc Richter von We read Indie
- Alice Grünfelder: Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land. Zürich: Rotpunktverlag 2022. 264 Seiten, 20.4 × 13.5 cm, gebunden. 29 Euro. E-Book erhältlich.
Wir freuen uns über eine Unterstützung unserer Autor:innen!