Margarete Beutler: Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet (AvivA Verlag)

Foto (c) Tama66

1985 fand Martin Freksa einige verstaubte Kisten aus dem Nachlass seiner verstorbenen Großmutter Margarete Beutler (1876–1949) auf dem Dachboden. Die deutsche Dichterin veröffentlichte zwischen 1897 und 1933 unter anderem Gedichtbände und Übersetzungen, in den Kisten befand sich überraschenderweise umfangreiches unveröffentlichtes Material. Im Jahr 2017 wurde dem Germanisten und Philosophen Winfried Siebert das literarische Vermächtnis der Schriftstellerin anvertraut und nach dreieinhalb Jahren Sichtung, Katalogisierung, Bearbeitung und Recherche wurde die erste Sammlung von Texten durch Martin Freksa und Winfried Siebert im Berliner AvivA Verlag herausgegeben, dem deutschsprachigen Herzblutverlag für wiederentdeckte Schriftstellerinnen, der in diesem Jahr sein 25. Verlagsjubiläum feiert. Das Buch enthält eine einleitende Widmung von Erich Mühsam – er verehrte Margarete Beutler –, ein Vorwort Sieberts, in dem er näher auf biografische Daten und Personen aus ihrem Umfeld eingeht, sowie eine Danksagung und editorische Notiz am Ende des Buches.

Die Veröffentlichung besteht aus zwei Sammlungen, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Der erste Teil fasst unter dem Titel „Eine schöne Bescherung“ dreizehn Geschichten zusammen, in denen ausschließlich Ich-Erzählungen der jungen Grete enthalten sind. Die Wahrnehmungen sind augenscheinlich biografisch geprägt, vieles stimmt mit Fakten aus der Kindheit von Margarete Beutler überein. Es geht um Erlebnisse aus der Zeit, als die „kleine Grete“ drei, vier Jahre alt war. Wann die frühen Schilderungen entstanden sind, ist unklar. Sie sind natürlich nachempfunden, erinnert, als die Autorin bereits erwachsen war, und wirken teils durch die Wortwahl etwas gestellt. Als Zeitzeugnis ist diese erste Hälfte hochinteressant.

Der zweite Teil lautet „Erlauben Sie – das soll ein gewöhnliches Frühstück sein?“. Hier nehmen das Erzähltempo und der Wortwitz deutlich zu, ich flog nur so durch die Seiten. Die Protagonistin Margarete ist zu Beginn eine junge Frau, bis sie schließlich von sich in fortgeschrittenem Alter spricht. In sechzehn Erzählungen werden Biografisches, Erträumtes und Humorvoll-Ironisches facettenreich dargestellt. Der Erzählstil und die Perspektive variieren, es ist kein homogener Erzählfluss, sondern es sind Kurzgeschichten zu Erlebnissen oder Gedanken. Man kann die Texte, beispielsweise über „freie Mutterschaft“ oder die „Divorce-School“, in denen sie teils amüsant, aber mit einer unvergleichlichen Unverblümtheit Aufklärung und emotionale Reife für junge Frauen fordert, als visionär bezeichnen.

Seit einem Jahrzehnt erobert Sonja Berlin und die umliegenden Ortschaften. Sie versteht Erobererhandwerk. Immer ist sie ausgesprochen zierlich und hübsch, immer auf eine ganz besondere Art unsolide, und immer hat sie zufällig in ihrer Sparkasse ein paar Rubelchen
oder Smaragde, mit denen sie helfen kann, wenn Not am Mann ist.

Das Buch mit dem sagenhaft skurillen Titel wird als Auftakt angekündigt, dem noch weitere Neuveröffentlichungen folgen sollen. Darüber freue ich mich sehr, denn schon diese Texte sind tatsächlich eine ganz großartige Entdeckung.

Dank an Julia Moldenhauer

  • Margarete Beutler: Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet. Hg. v. Winfried Siebert u. Martin Freksa. Mit dem Text »Grete« v. Erich Mühsam u. einem Vorwort v. Winfried Siebert. 256 Seiten, gebunden. 22 Euro

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