
Es gibt Dinge, denen wollen wir nicht zu nahekommen, und es gibt fordernde Literatur. Menschen, die ihre Macht missbrauchen, die Kinder missbrauchen, die ihr Begehren über das Wohl von abhängigen Menschen stellen, wollen wir nicht verstehen, wir wollen uns empören, Bestrafung für diese Menschen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn es gibt auch die Lust an Abgründen, in die wir abgestoßen und interessiert schauen. Wie das zusammenpasst, können und sollten wir uns alle fragen.
Die Summe des Ganzen von Steven Uhly, seinem bereits achten Roman, beleuchtet die Innenwelt von Kindesmissbrauchern und Verantwortlichen in der Kirche und konfrontiert uns mit unserer eigenen Lust an Spannung. Der kürzlich im Berliner Secession Verlag erschienene Kurzroman destilliert die sogenannten Kirchenskandale in ein kammerspielartiges Szenario.
Mit einem fast minimalistisch biblischen Sound, einer puren und präzisen Sprache und einer nahezu perfekten Dramaturgie konfrontiert uns Uhly mit folgender Situation. Wir befinden uns in einem Außenbezirk von Madrid. Padre Roque de Guzmán wartet routiniert, fast schon gelangweilt im Beichtstuhl auf seine ihm meistens schon bekannten Sünder:innen. Sie wiederholen ihre Verfehlungen, beichten sie, bekommen kleine Sanktionen und kehren immer wieder.
Doch dieses Mal ist etwas anders, ein unbekannter Mann betritt die Bühne, erscheint gequält und gehetzt. Der Sünder deutet nur an, bricht die Beichte ab, läuft weg. Er wird immer wiederkehren und bruchstückhaft Informationen preisgeben. Ist ein Junge in Gefahr? Subtil ist eine Begierde zu spüren, die sich auch beim Lesen entwickelt, die Begierde, zu erfahren, was passiert und ob sich die Sünde stoppen lässt. Der Padre gibt sich hilflos, er stellt sich gar nicht die Frage, wie er den Jungen schützen kann. Wir ahnen erst und erkennen dann schnell, dass es mehr als Hilflosigkeit ist, denn die berichteten Grenzüberschreitungen und Fantasien finden eine leise Resonanz, die immer drängender wird. Gefährdet ist ein Junge, zehn Jahre alt, zart, talentiert, vulnerabel.
Der Sünder Lucas Hernándes ist Akademiker, Familienvater, derzeit getrennt von seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter, die er zu lieben scheint. Er berichtet, dass er von der Mutter des Jungen mit Nachhilfe in Mathematik beauftragt worden sei und merke, dass er ein starkes, nicht zu bremsendes Begehren in Richtung des Jungen entwickle. Wir folgen seinen Gedanken, lauschen Bibelversen, Apologien und Manipulationen, die zum Teil schwer zu ertragen sind und zur gleichen Zeit nachdenklich stimmen.
Stark macht den novellenhaften Roman, dass es keine allwissende Erzählinstanz gibt, die es erlauben würde, die Geschehnisse mit Abstand zu betrachten. Wir wandern in den Kopf des Padres, schauen mit ihm auf den Sünder und spüren eine brodelnde Beunruhigung und Erregung. Bei einigen beiläufig eingestreuten Informationen müssen wir stutzen, aber wir bleiben in seinem Kopf. Ab und an springen wir in den Kopf des gehetzten Sünders.
Es ist stimmig, dass uns die Erlebenswelt des Jungen verschlossen bleibt, denn es ist nicht seine Verantwortung, was sich zusammenbraut. Der Kindesmissbrauch hätte Auswirkungen, die ihn sein Leben lang belasten würden, diese Frage lässt Uhly nicht offen. Auch die Sicht der Mutter erfahren wir nicht. Sie wäre da schon interessanter, denn auch sie ist in der Verantwortung, ihr Kind zu schützen. Sie hat es in den Kirchenchor und zur Nachhilfe geschickt. Damit hat sie es in andere Hände gegeben, Hände, die Gefahr bedeuten können.
Einzig eine weitere Figur kommt zu Wort. Diese Figur empfand ich als nicht stimmig. Lucas Hernándes führt auch auf der Straße Zwiegespräche als Gegenpol zum Padre. Er trifft dort einen nigerianischen Drogendealer, mit dem er sich immer wieder unterhält. Zu konstruiert, zu gewollt und in dem Wunsch, rassistische Stereotype zu überwinden, bleiben diese Dialoge in meinen Augen mittendrin stecken.
Der Text folgt einem klassischen, gut funktionierenden Spannungsbogen, die Gefahr ist erst hintergründig, wird drängender, spitzt sich zu, es kommt zu Wendungen und einem passenden Ende. Es gelingt die Gratwanderung, klar Position zu beziehen und in jedem Moment die Verantwortung bei den Tätern zu lassen. Die kirchliche und gesellschaftliche Verantwortung ist uns ganz dicht im Nacken und wir werden nicht verführt, einfache Antworten zu finden. Stattdessen bleiben wir mit wichtigen Fragen zurück.
Das Konzept der Beichte wird tief hinterfragt. Können Sündige durch das Zwiegespräch mit Gott gerettet werden, können sie Abbitte leisten, Sanktionen auf sich nehmen und dann rein von ihren Sünden sein? Wie ist es möglich, wenn das Sprachrohr Gottes selbst nicht frei von Sünde ist? Funktioniert die weltliche Gerichtsbarkeit besser oder folgt sie nicht einem ähnlichen Prinzip? Wir können das Wort Sünde mit Fehltritten, Verletzungen, Schaden, Straftaten ersetzen und landen dann mittendrin. Wo beginnt und endet die Verantwortung für das eigene Tun? Ist Rache eine Alternative? Ist sie eine Ermächtigung der Opfer, befreit sie oder ist sie auch Sünde, richtet sie Schaden an und verlängert das Opfersein?
Es gibt Dinge, denen wollen wir nicht zu nahekommen, die wollen wir nicht verstehen, und es gibt gute Literatur. Die Summe des Ganzen ist gute Literatur, die unbequem ist, die uns an Abgründe führt, die uns wachsen lässt und unsere ganze Aufmerksamkeit verdient. Es erfordert die Bereitschaft, sich den Tätern literarisch zu nähern, in ihre Köpfe und Erlebniswelten zu schauen.
Ich finde es verständlich, wenn man das nicht für sich möchte, aber wo endet und beginnt die Verantwortung von uns allen, sich auch diesen Fragen und Themen zu stellen, es sich dabei nicht einfach zu machen?
Dank an Katarina Rafailovic
- Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Berlin: Secession Verlag 2022. Gebunden, 156 Seiten. 22 Euro
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