
Ein Buch aus der Sicht eines Kindes zu schreiben ist eine heikle Sache. Wenn es sich an Kinder richtet, darf es ruhig kitschig und romantisierend sein, bei Belletristik für Erwachsene kann diese Perspektive schnell aufgesetzt wirken. Es ist ein großes Glück, dass Ilse Molzahn (1895–1981) als Erwachsene die Gefühle und Unklarheiten ihrer Kindheit so gut erinnern konnte, dass ihr autobiografisch geprägter Roman Der schwarze Storch, erschienen als Neuauflage im Wallstein Verlag, von der ersten bis zur letzten Seite authentisch ist. Erstmals wurde das Werk – nach einigen Jahren Schreibarbeit mit Pausen und anderen Veröffentlichungen dazwischen – 1936 veröffentlicht. Molzahn hat damit ein interessantes Zeitzeugnis der vorigen Jahrhundertwende erschaffen.
Schauplatz ist ein Gutshof in Ostpreußen um 1900. Katharina, die in etwa sechs Jahre alte Tochter des Gutshofbesitzers, ist das Kind, das erzählt. Katharina, von den meisten „Kater“ genannt, ist ein Wirbelwind. Da der Vater gern einen Sohn gehabt hätte, lacht er über ihre schmutzigen Kleider und die strubbeligen Haare, doch die fromme Mutter ist wenig verständnisvoll, Katharina soll sich angemessen benehmen und keinen freundschaftlichen Umgang mit dem Personal pflegen. Als sich ein schwarzer Storch auf dem Hof niederlässt, wird dies als böses Omen gedeutet, und tatsächlich gehen plötzlich Dinge vor sich, die sich das Mädchen nicht ganz erklären kann.
Deutlich erinnere ich mich des Tages, als der schwarze Storch bei uns auftauchte. Eben war der Winter zu Ende. Die Luft war rauh. Meine Mutter hatte mir einen Mantel angezogen, aber er hing bereits am Zaun, während ich mich auf meinem Lieblingsplatz, dem Dunghaufen, der mit trockenem glänzendem Stroh zugedeckt war, lang ausgestreckt hatte und unverwandt in die Luft starrte.
Katharina hat jedoch ihre Ohren überall, und auch wenn es sich nicht geziemt, Erwachsenen unbequeme Fragen zu stellen, möchte sie wissen, warum zum Beispiel das von ihr geliebte Dienstmädchen plötzlich den Hof verlassen muss und Erwachsene nie die Wahrheit sagen. Und sie verliebt sich auch noch unsterblich.
Der Roman ist kein Epos, keine Familiengeschichte, wie man es sonst in der Literatur über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kennt, nein, wir bleiben ganz bei dem kleinen Mädchen und seinen Erlebnissen innerhalb eines überschaubaren Zeitfensters und einer überschaubaren Anzahl an Figuren. Auch wenn die Geschichte über 80 Jahre alt ist und die Handlung sich in einer ländlichen Umgebung auf einem Gutshof abspielt, wo die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde eines der Kernthemen ausmacht, empfinde ich Der schwarze Storch als zeitlos. Damals wie heute unterscheidet sich die Welt eines Kindes von der Erwachsenenwelt. Seine Wahrnehmung, welche Worte es überhaupt für Dinge finden kann, mit denen es konfrontiert wird, ist unserer aufgeklärten Art zu denken fern. Dieser Kindheitsroman erweitert die Sicht um die Eindrücke eines Kindes, das sich vieles noch nicht erklären kann und die Lücken teils durch magisches Denken, teils durch Träumereien auffüllt. Sinnbild hierfür ist der schwarze Storch. Der Aberglaube spielte zu dieser Zeit generell noch eine viel größere Rolle, zudem gab es, nicht nur gegenüber Kindern, viele Tabuthemen, über die nicht gesprochen wurde. Ilse Molzahn ist es beeindruckend gelungen, ihre Ängste, Sorgen und Gefühle aus der Kindheit zu rekonstruieren und auf einzigartige Weise in einen vielseitigen Roman zu verpacken. Zwischen Kater und Ilse bestehen zu großen Teilen biografische Übereinstimmungen. Dem Roman ist ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Thomas Ehrsam beigegeben, anhand dessen aufgeklärt wird, was wahren Begebenheiten entsprungen ist und was hinzugedichtet wurde. Es enthält eine fundierte Biografie Ilse Molzahns, ergänzt durch Zitate oder ganze Abschnitte aus ihrem Schriftverkehr, die sich ebenso spannend liest wie die Geschichte.
Ein großes Glück, dass dieses außergewöhnliche Stück Literatur in dieser tollen Aufbereitung Leserinnen und Lesern wieder zur Verfügung steht!
Dank an Julia Moldenhauer (adaptiert und verändert, Originalbeitrag auf Ausgebucht)
- Ilse Molzahn: Der schwarze Storch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Ehrsam. Göttingen: Wallstein Verlag 2022. 376 Seiten, gebunden, 12 x 20 cm. 28 Euro
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