Mit Pessoa die Welt denken, die Politik, das Jetzt. Von Isabella Feimer

(Anstelle einer) Besprechung
(zu Fernando Pessoas Erzählungen)

Zugegeben, es ist kein leichtes Unterfangen, mit Fernando Pessoa (1888–1935) die Welt zu denken. Seine Welt war noch eine andere und liegt in etwa hundert Jahre in der Vergangenheit. Sie ist verschlüsselt und doch auserzählt. Sie ist viele Stimmen, die sich in den Heteronymen finden, denen sich der Autor verschrieben hat, Stimmen, die sich im Wunsch nach einer gesellschaftlichen Utopie bündeln. Seine Welt des Schreibens umfasste Lyrik, dramatische Skizzen, Prosaaufzeichnungen, von denen sein berühmtestes Werk Das Buch der Unruhe ist, sowie essayistische und politische Schriften. Er gilt als einer, wenn nicht der wichtigste Vertreter der portugiesischen Literatur der Moderne.

Die Moderne zeigt sich besonders deutlich, wenn Pessoa seine Selbstbeschreibung und die Reflexion des Ichs im Spiegel der Sprache glänzen lässt, wie er es als Hilfsbuchhalter Bernardo Soares im Buch der Unruhe tut:

Ich muss wählen, was ich verabscheue: das Träumen, das meinem Verstand verhasst ist, oder das Handeln, das meiner Sensibilität zuwider ist; das Handeln, zu dem ich nicht geboren bin, oder das Träumen, zu dem niemand geboren ist.

Sie zeigt sich deutlicher, wenn er sich der Politik und Gesellschaft annimmt, wenn er Stellung zur gegenwärtigen Zeit bezieht. Das tut er in den Erzählungen In Evaristos Apotheke und Der Bankier und Anarchist, die nun gemeinsam (inklusive Faksimiles und Abdruck in Originalsprache) im Kupido Verlag erschienen sind und vom Verleger Frank Henseleit ins Deutsche übersetzt wurden.

In In Evaristos Apotheke wird politisiert, argumentiert und es wird in einem ständigen Für und Wider die Gesellschaft gezeichnet. Ausgangspunkt des Diskurses, der zwischen dem Apotheker und seinen Kunden entsteht, ist der Militärputsch von 1915, der weitere Unruhen – und das für viele Jahre – zur Folge hatte.

„Wieviel Zeit benötigt ein Zustand, damit Sie ihn für legitim halten?“, lässt Pessoa sagen und lässt entgegnen: „Es ist nicht die Dauer, mein Guter, es ist die Art und Weise, wie er überdauert …“ Er schreibt einen Diskurs, der in seiner Form an jene Dialoge von Platon oder Giordano Bruno erinnern, schreibt Rede und Gegenrede, um tiefer in das Thema zu gelangen, um es von allen Seiten zu betrachten; er hinterfragt mit jeder Rede und jeder Gegenrede Politik und Gesellschaft seiner Zeit. Mit Satire macht er das. Mit Umwegen genauso. Und mit provokanten Wahrheiten.

Nun, in Portugal heißt es, sind wählen entweder ein Schwindel oder keiner, oder sie sind mal ein Schwindel und mal keiner.

Weiß man wenig über die politische Geschichte Portugals zu jener Zeit, gestaltet es sich zwar als schwierig, Pessoas Figuren in ihren diesbezüglichen Ausführungen zu folgen, doch – und das ist das Herausragende an diesem Text – wird man stets an die eigene Gegenwart erinnert. Auch sie ist eine der Unruhe, eine der Umbrüche, eine, die Rede und Gegenrede ist, eine, die von allen Seiten betrachtet werden muss, und das auch wird, stets, von allen, von jedem, der glaubt, etwas zu sagen zu haben. Unangenehm gegenwärtig ist Pessoas Text, wenn er sich unter anderem der Korruption widmet oder fadenscheinige revolutionäre Bewegungen bloßstellt, unangenehm erkenntnisreich.

Das moralische Gespür wird von keinem Regime erzeugt, denn es liegt nicht in der Sphäre des Handelns eines politischen Regimes; die soziale Moral erschaffen Individuen im Kreis der Familie durch ihren bloßen sozialen Umgang …

Unangenehm gegenwärtig, unangenehm bloßgestellt.

Auch die ebenso satirische Erzählung Der Bankier und Anarchist, die zu den wenigen gehört, die zu Pessoas Lebzeiten veröffentlicht wurde, ist im Nachhall der politischen Unruhen Portugals entstanden. Auch sie trägt ein Jetzt in sich, das nicht zu leugnen ist. In ihr lässt der Autor an einem Gespräch teilhaben, das beginnt, nachdem das eigentliche Gespräch verebbt ist. Ein Gerücht habe der Ich-Erzähler gehört, nämlich jenes, dass sein Gegenüber, ein höchst erfolgreicher Bankier, einmal Anarchist gewesen sei, worauf dieser ihm entgegnet, dass er es noch immer ist. Nach dem Widerspruch gefragt, wie es sein könne, das eine und das andere zu sein, erläutert der Bankier seinen anarchistischen Werdegang und warum Anarchie als einzig mögliche Gesellschaftsform Berechtigung habe.

„Wonach strebt der Anarchist? Nach der Freiheit – Freiheit für sich und die anderen, für alle Menschen. Er will frei sein von den Einflüssen und vom Druck der gesellschaftlichen Fiktionen; er will so frei sein, wie er auf die Welt kam …“, schreibt Pessoa und lässt den Bankier erzählen, wie er diese Freiheit erlangt hat. Wieder über Umwege. Ein Um-Denken. Diesmal ein Diskurs mit dem Selbst. Und wieder unangenehm und auch amüsant, wie Pessoa Kritik am Kapitalismus übt und gleichzeitig an dessen Gegnern – ohne zu viel zu verraten, nur so viel in den Worten des Bankiers:

Es musste anders gehen als Flucht – eine Schlacht musste geschlagen werden. Wie das Geld überwinden, wie es in der Schlacht besiegen? Wie mich seines Einflusses und seiner Tyrannei entziehen und der Berührung mit ihm nicht ausweichen? Es gab nur einen Weg – es anzuhäufen; es in gigantischen Mengen anzuhäufen, um seinen Einfluss nicht zu spüren.

Als Um-Denker zeigt sich Pessoa in diesen Texten, als einer, der um eine Sache herumdenkt, um sie zu verstehen und sie in all ihren Widersprüchen zu erzählen. Sich selbst dabei genauso zu erzählen wie alle anderen. Seine Abneigung gegen Gewalt, gegen Gewalttaten für die vermeintlich „gute“ Sache findet sich in diesen Erzählungen ebenso wie ein satirischer Blick auf die absolute Wahrheitsfindung. Es sind tief politische Texte – zugegeben, nicht leicht zu lesen. Aber: Das Jetzt, das unsere, erfordert es, sich mit Texten wie diesen auseinanderzusetzen. Man muss Texte wie diese lesen, muss Evaristos Apotheke einen Besuch abstatten, Mäuschen sein, das zuhört, oder sich ins Gespräch mischen; muss vielleicht auch dem Bankier das Eigene, das nach Freiheit strebt, entgegenstellen. Man sollte mit Pessoa Welt denken, Politik und Freiheit. Und das Jetzt.

Dank an Isabella Feimer (Text und Fotos)

Fernando Pessoa: In Evaristos Apotheke/Der Bankier als Anarchist (1935). Erzählungen. Aus dem Portugiesischen von Frank Henseleit. Köln: Kupido Verlag 2022. 128 Seiten, Halbleinen. 24,80 Euro.

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