Anna Herzig im Gespräch mit Tatjana Scheel

Foto Peter H

Beim diesjährigen Literaturfestival Wortspiele in Wien hat sie mir den Vortritt gelassen, damit ich nach der Lesung mit meinem damals noch kleinen Baby schnell wieder abhauen konnte. Unerwartet fasziniert hat mich bei unserer allerersten Begegnung nicht nur ihre Empathie, sondern auch ihre Herzlichkeit. Die Rede ist von der deutschen Drehbuchautorin und Schriftstellerin Tatjana Scheel, die in ihrem Debüt, dem Coming-of-Age-Roman Vielleicht habe ich dich nur erfunden (2022) aus dem Haymon Verlag, über authentische Stille schreibt und die gesamte Bandbreite an nachvollziehbaren Gefühlen geschickt zu einer interessanten Inszenierung der Menschlichkeit verwebt, an den Orten Sizilien, Berlin und Island.

Los!

Liebe Tatjana, hast du einen Spitznamen und was würde die Figur Sheela aus deinem Roman zu meiner Nase sagen?

Liebe Anna, eines vorweg: Deine Fragen sind wunderbar! Aber bitte keine Spitznamen, die sind nur auf dem Fußballfeld erlaubt, weil Tat-ja-na da einfach zu lange dauert.
Und was die Nase angeht: Sheela? Meinst du nicht eher Alex? Die ist doch diejenige, die auf Nasen abfährt. Sheela würde zu dieser Frage höchstens die Nase rümpfen.

Nasen sind wichtig. Das wusste ich schon immer, und als ich Sheelas Nase zum ersten Mal sah, musste ich sie sofort anfassen. Sheela war eine völlig Fremde, aber ich konnte nicht widerstehen, ich musste diese Nase berühren, um zu verstehen, was für ein Mensch sie war, ob sie zu mir passen würde oder nicht.

Wie würden deine Figuren Sheela und Alex in einem historischen Roman miteinander agieren? Und vor allem: Würde Sheela da überhaupt mitmachen?!

Und ob Sheela da mitmachen würde! Sie würde das Ganze sogar initiieren. Aber sie würde alles im Verborgenen tun, sodass am Ende natürlich Alex diejenige ist, die dafür gehängt wird. Sheela würde die öffentliche Hängung vom Fenster ihres Palastes aus beobachten und eine kleine Krokodilsträne darüber vergießen.

Am Ende des Gangs befinden sich ein Aufzug und daneben eine Treppe. Ich nehme den Aufzug. Gestern hat es sich noch furchtbar neu und toll und aufregend angefühlt, Hotelgast in der eigenen Stadt zu sein. Heute fühle ich mich eher wie eine Killermaschine mit einer neuen Mission, welche lautet: Finde Sheela und vernichte sie.

Wie viel bedeuten deinen literarischen Figuren zwischenmenschliche Interaktionen?

Spontan würde ich jetzt antworten: Alles. Zwischenmenschliche Interaktionen und Beziehungen bedeuten alles, angefangen bei der Beziehung zu und dem Umgang mit uns selbst. Wobei ich auch immer wieder gerne Figuren erschaffe, die sich konträr dazu verhalten. Figuren, die bewusst aus den zwischenmenschlichen Beziehungen heraustreten oder sich gar nicht erst darauf einlassen können oder wollen.

Dann beginnt sie, über sie sich selbst zu sprechen, was sie früher nie getan hätte. Sie erzählt, wie einsam sie sich manchmal fühlt, trotz der vielen Menschen um sie herum. Sie könne nicht gut allein sein und spüre oft eine gähnende Leere in sich, die immer größer werde.

Was prägt deine künstlerischen Strukturen, was dein Denken?

Zu meinen künstlerischen Strukturen kann ich noch nicht viel sagen, da sie sich andauernd ändern. Aber die Frage, was mein Denken prägt, finde ich sehr interessant.
Sicher wird es davon geprägt, was ich lese, sehe, höre. Es ist stark von Außen geprägt, wie das wahrscheinlich bei uns allen der Fall ist. Ich finde es wirklich gar nicht so einfach, einen echten ur-eigenen Gedanken zu haben! Und leider ist mein Denken auch mehr von der Vergangenheit geprägt, als mir lieb ist. Was ich aber sagen kann: Je mehr ich in die Stille gehe und je weniger ich tu, desto authentischer werden meine Gedanken.

Ich muss keine Nachrichten anschauen, um zu wissen, dass dem Leben nicht zu trauen ist.

Tatjana Scheel (Foto (c) Andrea Cazzaniga)

Muss man Träumerin sein, um sich die Schriftstellerei anzutun, oder Realistin?

Ich glaube, man kann durchaus gleichzeitig Träumerin und Realistin sein. Allerdings ist das etwas anstrengend. Anscheinend ist es immer einfacher, sich für eine Sache (oder einen Standpunkt) zu entscheiden. Wobei, manchmal ist es auch einfacher, sich eben nicht zu entscheiden. Verzwickte Angelegenheit …

Was bedeutet dir Freiheit im Allgemeinen und wie würdest du sie im Besonderen erklären?

Freiheit, darüber denke ich häufig und gerne nach. Manchmal vergessen wir, glaub ich, was für ein Privileg es ist, zumindest äußerlich frei zu sein. Was die innere Freiheit angeht, wird es noch komplizierter. Für mich bedeutet innere Freiheit, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Das hat nichts mit Resignation zu tun, eher mit Loslassen. Vor allem das Bedürfnis loszulassen, das Außen zu kontrollieren. Es bedeutet Urvertrauen. Leider spüre ich diese innere Freiheit bisher nur in manchen Momenten. Aber zum Glück kann man daran arbeiten. Wobei man bei dem Begriff „arbeiten“ aufpassen muss, dass man nicht etwas zu erzwingen versucht, was ja dann auch wieder ein Zeichen von Unfreiheit ist. Man könnte innere Freiheit vielleicht auch so beschreiben: sich erlauben, glücklich zu sein.

Sind Liebesbeziehungen jemals frei von toxischen Verhaltensmustern?

Haha, ja, also tantrische Liebesbeziehungen sind auf jeden Fall frei von toxischen Verhaltensmustern. Beziehungsweise nein, die Tantriker*innen nehmen die toxischen Muster, die immer wieder auftauchen, einfach an und verwandeln sie in etwas anderes.

Danke Anna Herzig und Tatjana Scheel!

  • Tatjana Scheel: Vielleicht habe ich dich nur erfunden. Innsbruck: Haymon Verlag 2022. 280 Seiten, gebunden. 22,90 Euro
    Wir freuen uns über eine Unterstützung unserer Autor*innen!                                         

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