
Im Sommer sind die Pariser weg und die Touristen haben die Stadt mehr oder weniger für sich allein – und die Kinos sind nicht überfüllt. Christine Siebert nimmt uns mit auf 21 Spaziergänge durch die Filmstadt Paris – mit übersichtlichem Stadtplan, vielen Anekdoten aus der Filmwelt, Porträts der allerschönsten Kinohäuser. Außerdem kann man sich mit diesem Reiseführer der besonderen Art aus dem Leipziger Henschel Verlag auch einen eigenen Sommerspielplan zusammenstellen, mit lauter Filmen, in denen Paris im Zentrum steht.
Paris: Das ist dem Klischee nach die Stadt der Liebe, aber sie ist eben und vor allem auch die Stadt des Kinos. 1957 verlieben sich im Jardin du Luxembourg zum Beispiel Romy Schneider und Horst Buchholz ineinander in Helmut Käutners Film Monpti – und diese Pariser Geschichte zeigt nicht nur das hübsche junge Paar, sondern eben auch die Stadt, den Eiffelturm, die Blicke aus dem Dachzimmer. Oder Die wunderbare Welt der Amélie (2001) von Jean-Pierre Jeunet, in der die Heldin durch die Marktstraßen von Montmartre streift. Oder Jean-Luc Godards Außer Atem (1960), in dem Jean Seberg auf den Champs Élysées die „New York Herald Tribune“ verkauft und Jean-Paul Belmondo am Ende tödlich getroffen in der Rue Campagne Première zusammenbrechen.
In Montparnasse wohnte der Fotograf und Experimentalfilmer Man Ray, die Regisseurin Agnès Varda drehte hier 1962 ihren Film Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7, in dem eine junge Frau unruhig durchs Viertel streift. Sie wartet auf das Ergebnis einer medizinischen Untersuchung. Und Martin Scorsese hat 2011 für seinen Film Hugo Cabret nicht nur den alten Montparnasse-Bahnhof wieder aufgebaut, er hat auch hier gedreht.
Christine Siebert lebt schon lange in Paris. Sie ist eine Filmenthusiastin, die sich auf die cineastischen Spuren ihrer Wahlheimat gemacht hat. Schließlich beginnt die Kinogeschichte hier. Am 28. Dezember 1895. Im Grand Café am Boulevard des Capucines bei der Opéra Garnier führen die Brüder Lumière zum ersten Mal öffentlich einen Film vor. Voller Schrecken springen die Zuschauer von ihren Stühlen, als ihnen eine Eisenbahn entgegenfährt. Im Publikum sitzt auch der Zauberkünstler Georges Méliès, der später – wie die Autorin schreibt – zum Erfinder des Spielfilms werden wird.
Heute findet man an der geschichtsträchtigen Filmadresse einen Laden mit Accessoires für schönes Wohnen. Aber es gibt immerhin eine Gedenktafel am Haus, die auf die erste Projektion bewegter Bilder hinweist.
Dem Geburtsort des Kinos, dem Opernviertel, ist der erste der 21 Spaziergänge durch die Pariser Filmwelt gewidmet. Wir schlendern mit der Autorin durch die anderen Arrondissements, besuchen Filmschauplätze, das Haus, in dem Romy Schneider bis zu ihrem Tod lebte, laufen durch den schicken Pariser Westen, das 16. Arrondissement, in dem die Schönen und Reichen leben – auch im Kino. Und die Frauenmörder: in Chaplins Film Monsieur Verdoux (1947) und in Landru (1962) von Claude Chabrol. Mit einem Filmwissenschaftler streifen wir durch Saint-Germain-des-Prés auf den Spuren der Nouvelle Vague, lernen die Jazzclubs kennen, in denen die jungen Filmer Godard, François Truffaut oder Louis Malle ihre Nächte verbrachten.
Zur Seele dieser Filmstadt gehören natürlich auch und vor allem die Kinos. 400 Kinosäle gibt es in Paris, und in diesem Buch lernen wir die bezauberndsten kennen: Im zweiten Arrondissement das unter Denkmalschutz stehende Grand Rex zum Beispiel, das 2750 Plätze hat und in dem im Frühling stets das Jules-Verne-Festival des Abenteuerfilms stattfindet. Und das Lieblingskino der Autorin: das mk2 Quai de Seine/ Quai de Loire, zwei Kinos diesseits und jenseits des Bassin de la Villette. Man kann mit einem kleinen Boot von einem Kino zum anderen fahren.
Dieses gut geschriebene Buch ist das, was man eine Fundgrube nennt, voller Stadt- und Filmgeschichten. Ein kenntnisreicher Reiseführer, der uns an ungewöhnliche Orte führt und die Augen öffnet. Natürlich kommt auch ein ausführlicher Besuch in der Pariser Cinémathèque vor. Im Anhang sind die liebsten Paris-Filme der Autorin aufgelistet, die schönsten Kinos samt Adressen und es gibt Literaturhinweise zum Weiterlesen.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert, Originalbeitrag auf rbb Kultur)
- Christine Siebert: Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastischen Spaziergängen. Leipzig: Henschel Verlag 2022. 224 Seiten, 20 Abbildungen, schwarz-weiß, 1 Karte. 22 Euro
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