
Die Autofiktion ist zumindest im deutschsprachigen Raum – auch nach gefühlt Jahren des Hypes – weiterhin im Hoch. So lassen sich zumindest Erfolge wie zuletzt von Tove Ditlevsen, Annie Ernaux oder davor natürlich auch von Karl Ove Knausgård gut erklären. Der Begriff selbst bleibt jedoch schwierig und schwammig. Was unterscheidet autofiktionales von autobiografischem Schreiben? Oder anders gefragt: Ist ein lektoriertes, redigiertes Tagebuch Autofiktion, ein unverändertes Autobiografie?
Nun scheint aber dieser Blick auf das Tagebuch als unveränderte, tageweise in Wahrheit gegossene Verschriftlichung des jeweiligen Tages eher naiv. Genau wie bei der unretouschierten Fotografie die Wirklichkeit in einen bestimmten Rahmen gesetzt wird, ist das Tagebuch immer und zwangsläufig auch literarisch gestaltet. Als Verächter von Schopenhauer könnte man natürlich noch ins Feld führen, dass gerade Formen wie das Tagebuch der Wahrhaftigkeit verpflichtet sind und dementsprechend auch nicht literarisch gestaltet werden sollten. Das wiederum würde aber den Realitäten des (zumindest deutschen) Buchmarkts zuwiderlaufen. Und vielleicht lässt sich in genau diesen Gegenpositionen der Kern der Autofiktion erfassen: Veröffentlichte, redigierte, lektorierte Bücher sind immer literarisch gestaltet, zwingen die Welt also in einen bestimmten sprachlichen Rahmen, der sich vielleicht der Wahrheit annähern kann, ihr aber nicht 1:1 entspricht. Im kantischen Sinne also: keine apriorische Wahrnehmung der Dinge an sich. Autofiktion damit auch als Haltung für das autobiografische Schreiben: Die Wahrheit kann nie in einen literarischen Text verpackt werden. Wenn, dann kann sich ihr nur angenähert werden. Ist diese Annäherung mit Aufrichtigkeit gepaart, entsteht Autofiktion.
Zugegebenermassen, wichtiger als diese Erkenntnis in ihrer Absolutheit ist die Form der Analyse, die sie uns für die Literatur eröffnet. Kommen wir dementsprechend zu den drei Büchern dieser Kolumne, die sich mitten im Tummelfeld der Autofiktion bewegen: Ruth Herzbergs Die aktuelle Situation (mikrotext, 2022) wurde in der Vorschau noch als Journal angekündigt, mittlerweile ist daraus ein Roman geworden. Manfred Krugs Tagebücher Ich sammle mein Leben zusammen (kanon verlag, 2022) werden auch als solche gepriesen, aber bereits auf der Rückseite des Buches steht: „Der sensationelle Lebensroman des unvergessenen Stars.“ Marc Degens’ Selfie ohne Selbst (Berenberg Verlag, 2022) hingegen kommt ganz ohne Gattungsbezeichnung daher, wobei der Begleittext von einer „autobiografischen Operation“ spricht.
Die Wahrheit und Corona: Das unsäglichste Genre der Gegenwartsliteratur
Aber beginnen wir mit Ruth Herzbergs „Roman“. Die Gattung steht in Anführungszeichen, weil der autofiktionale Charakter des Textes durchweg klargemacht wird und sich seit der Vorschau auch verändert hat. Man kann sich natürlich denken, dass die Form hier eher einen Mechanismus der Abgrenzung vom Wahrheitsanspruch darstellt, der Journalen auch anhaftet, denn eine komplette Fiktionalisierung im Lektoratsprozess.
Der Titel Die aktuelle Situation spielt auch schon auf das Thema an: Corona, Lockdown. All dieses Gesöcks. Kurzum: das unsäglichste Genre der Gegenwartsliteratur. Und nach meiner unverblümten, prälektürischen Meinung gefragt: Braucht kein Mensch, hat jeder selbst durchlebt. Aber wenn ich jemandem zugetraut hätte, auch dem platten Corona-Alltag ein lesenswertes Buch abzutrotzen, dann Ruth Herzberg. Das Vorgängerwerk Wie man mit einem Mann unglücklich wird (mikrotext, 2021) war so frisch, unverblümt und direkt, dass mir sogar dieses leidige Thema in ihrer Verarbeitung möglich schien.
Zu grossen Teilen hat zum Glück Ruth Herzbergs schriftstellerisches Können den Sieg über das Genre getragen, aber, dies soll hier nicht verheimlicht werden, der Band hat auch – gerade zu Beginn – diese erwartbaren Momente, die beim Rezensenten den Wunsch geweckt haben, ihn im hohen Bogen in die Ecke zu werfen. Es ist verständlich, ganz um den Lockdown, die Gedanken, die man sich gemacht hat, die banalen Nebensächlichkeiten, die nicht zwingend einer literarischen Aufarbeitung bedürfen, ist auch Ruth Herzberg nicht herumgekommen. Aber sie war sich dessen natürlich bewusst und hat mit unverkennbarer Frische frei von der Leber weg geschrieben.
Die Ausgangssituation ist schwierig: Die Kinder (Spongebob und Patrick) sind jetzt bei der Mutter und Ich-Erzählerin. Der Vater der Kinder hingegen ist in Frankreich, will (und kann) nicht nach Berlin zurückkehren. Und plötzlich sind die Kinder immer da. Und der Lover ist auch weg. Oder pflegt seine Mutter. Oder ist gerade böse. Alles schwierig also. Der Alltag schwankt zwischen Überforderung, Sorge, Lust und Ödnis. Herzberg greift diese Ausgangssituation mit viel Humor und Selbstironie auf. Ständig geht alles schief. Der feine Humor ist denn auch das stilbildende Merkmal von Herzbergs neuestem Buch, den sie sehr gezielt in den Alltag hineinwebt. Sie kokettiert mit der Hauptfigur, die immer wieder schelmenartig, also vom Alltag getrieben und machtlos, beschrieben wird, sich aber eigentlich souverän – wenn auch entwaffnend ehrlich – durch den Alltag kämpft. Dieser Zwist, das sanfte Umdeuten der eigenen Akteurschaft verleiht eben nicht nur Humor, sondern erzeugt auch Spannung zwischen Figur und Welt, die die aktuelle Situation erträglich macht.
Der Voyeur und das Tagebuch: Liebe auf den ersten Blick
Es hat auch gewisse Vorteile, wenn man Bücher nicht tagesnah bespricht, sondern einen gewissen Abstand zum Erscheinungstermin lässt, damit man die Rezeption beobachten kann. Die war gerade bei den Tagebüchern von Manfred Krug offenbarend. Oft besprochen wurde der Band zumeist mit einem voyeuristischen Blick analysiert: also eine Offenbarung der Intimitäten des Lebens und Fühlens einer Person der Öffentlichkeit. Geschickt wurde herausgearbeitet, wie sich Krug in der Öffentlichkeit behauptet und sein Leben literarisch verarbeitet hat. Gerne wurde dann auch noch die literarische Qualität der Tagebücher betont.
Jetzt ermöglicht sich ein voyeuristischer Blick aber nur im Hinblick auf entsprechendes Vorwissen. Der „Volksschauspieler“ Manfred Krug war mir höchst unbekannt, was sicherlich auch daran liegt, dass ich in meinem Leben so ziemlich genau einen halben Tatort gesehen habe (die schweizerischen sollen aber jeweils besonders gut sein, habe ich mir sagen lassen). Ich habe die Tagebücher also zwangsläufig aus einer anderen Sicht lesen müssen. Krug begegnet einem darin als Mensch in einer zweifachen Ausnahmesituation: Einerseits hat die junge Geliebte Petra kurzum das gemeinsame Kind geboren, was Krugs Ehefrau Ottilie gleich zu Beginn der Tagebücher per Zufall erfährt.
Ich hatte mit meiner Petra verabredet, daß sie mit Marlene in meiner Wohnung gegenüber auf mich wartet. Dort saß sie, nur mit Unterwäsche bekleidet, im Ledersessel, das Kind lag auf dem Fußboden, als plötzlich Ottilie ohne mein Wissen hereinkam, um Butter aus meinem Tiefkühlfach zu holen. Damit war es passiert: Otti war Petra und dem Kind begegnet.
Andererseits ist der beste Freund Jurek Becker schwer krank. Krug wird also aus seinem geordneten Leben gleich doppelt aus der Bahn geworfen. Diese Umstände verarbeitet er schnörkellos und auch etwas nonchalant. Gerne wurde bisher etwa überlesen, dass sehr viel relativ belangloser Alltagskram in den Tagebüchern auftaucht, etwa wer wann wo verreist, wer kondoliert und wer wie lange an welchen Drehbüchern gearbeitet und wie Krug diese gerettet hat. Das erklärt aber auch schon die Rezeption, die voyeuristische Perspektive ist schlichtweg die ergiebigere, unterhaltsamere. Während die zweite, unvoreingenommenere Sichtweise halt auch die Schwächen der Tagebücher zeigt. Krug offenbart sich darin schlichtweg nicht als Mensch. Oder wenn als eitler Patriarch, der unbeirrt seinen Weg fortschreitet und es im Zweifel selbst am besten weiss und kann. Wirklich nah kommt man seinem Erleben nur selten, weil die Tagebücher eine Externalisierungsstrategie verfolgen. Das soll gar kein Vorwurf sein, viel eher enthüllt sie den wahren Charakter der Tagebücher: die interne Richtigstellung des Externen. Das ist unterhaltsam und das Gespür für die literarische Gestaltung kann man Krug zweifelsohne nicht absprechen, aber mehr ist es dann eben auch nicht. Im Zweifelsfall ist also besser dran, wer nicht nur unterhalten, sondern auch ein gewisses voyeuristisches Grundbedürfnis befriedigen möchte.
Die Wahrheit im Tagebuch
Manfred Krugs Tagebücher sagen unverblümt, was sie sind, während Ruth Herzbergs Roman in Bezug auf die Wahrhaftigkeit seiner Inhalte da etwas herumdruckst. Wie aber sieht dieses Verhältnis von Autofiktion und Wahrhaftigkeit aus? Respektive, wie sollte es aussehen? In dieser Hinsicht ist Selfie ohne Selbst von Marc Degens der faszinierendste Text der drei, weil er gleichzeitig Poetologie und Autofiktion ist. Auslöser für Degens’ Buch ist der Tod des Berliner Schriftstellers Michael Rutschky und das Erscheinen des dritten Bandes von Rutschkys Tagebüchern (Gegen Ende, Berenberg Verlag, 2019). In diesen Tagebüchern, die den Zeitraum von 1996 bis 2009 abdecken, taucht auch Degens selbst auf. Die (nicht gerade schmeichelhafte oder zumindest arg verzerrte) Darstellung der ersten Begegnungen der beiden nutzt Degens für einen autofiktionalen Text, in dem er über einen anderen autofiktionalen Text (jenen von Rutschky) sinniert und daraus eine Poetologie der Aufrichtigkeit für autofiktionales Schreiben zimmert.
Degens reflektiert die eigene Zerrissenheit, die ihm sowohl als Autor von Autofiktion, aber auch als Gegenstand derselben bei Rutschky widerfährt. Einerseits war „Herr Rutschky“ zeitlebens ein Mentor, der Degens gefördert hat, andererseits war der Mentor in seinen Tagebüchern in dem Sinne verletzend, als dass ihn Degens nicht als aufrichtig empfunden hat. Das Wort Aufrichtigkeit fällt im Band selbst zwar nie, aber es bleibt ein Grundantrieb, der seine Kraft aus der Vermischung der Form bezieht, also der Rückbesinnung auf sich selbst in der eigenen Form. Degens erweist sich dabei als sehr genauer Erzähler, der auf zwei Ebenen gleichzeitig arbeitet, Autofiktion schreibt und Autofiktion kategorisiert.
Ich erinnere mich an eine Aprilnacht vor vielen Jahren in Berlin, David [Wagner] hatte Geburtstag, und Herr Rutschky und ich saßen an einem Tisch vor dem »Haliflor«, und er sprach über sein Tagebuch und seine Leitregel: »Keine Befindlichkeiten!« Aber machten sie nicht gerade den Reiz von vielen Tagebüchern aus? Von Pepys, Kafka, Raddatz, Kempowski oder Helmut Krausser? Ich versuchte, mir das Tagebuch vorzustellen, und fragte mich, wie sich die Einträge lesen würden. Wie die weltanschaulichen Verlautbarungen eines Ernst Jünger?
Natürlich, die eingangs aufgeworfenen Fragen habe ich bisher nicht beantwortet. Ich habe drei Bücher vorgestellt, die Ihnen als Exempel dienen sollen, vermutlich werden dadurch weitere Fragen aufkommen. Mit dieser Diskrepanz müssen Sie leben, aber ich erlaube mir noch eine kurze Schlussbeobachtung: Vielleicht ist eine Poetik der Autofiktion nur als Autofiktion möglich, weil sie sich nur so dem Vorwurf der Wahrhaftigkeit erwehren kann, um zeitgleich den literarischen Gestaltungswillen hervorzuheben. Anders gesagt: Autofiktion als Gattung zu erfassen, ist auch nur durch die Auseinandersetzung mit entsprechenden Texten möglich. So kann festgehalten werden, dass die Koketterie mit der Wahrheit genauso zur Autofiktion gehört wie die jeweiligen Genrebezeichnungen.
Ein wahrhaftiger Dank an Nick Lüthi (Fotos Nick Lüthi)
- Ruth Herzberg: Die aktuelle Situation. Berlin: mikrotext 2022. 248 Seiten, Taschenbuch. 20 Euro.
- Manfred Krug: Ich sammle mein Leben zusammen. Tagebücher 1996–1997. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Krista Maria Schädlich. Berlin: kanon verlag 2022. 208 Seiten, gebunden. 22 Euro.
- Marc Degens: Selfie ohne Selbst. Berlin: Berenberg Verlag 2022. 88 Seiten, flexibler Leineneinband. 18 Euro.