Mario Schlembach: heute graben (Verlag Kremayr & Scheriau)

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Ein Totengräber, der auf verzweifelt-komische, reflektierte und gleichzeitig verstiegene Art und Weise auf der Suche nach Liebe ist, von einem absurden Tinder-Date zum anderen taumelt und zwischendurch Gräber auf Friedhöfen aushebt. Ein beharrlich und hoffnungslos Sehnender und Träumender, der schreiben will und keinen Verlag findet, der parallel dazu durch die kafkaesk anmutenden Mühlen eines sinnlos durchbürokratisierten Gesundheitswesens getrieben wird auf der Suche nach Erklärungen für eine seltene Lungenerkrankung, die er mit Thomas Bernhard teilt – davon und von mehr erzählt der österreichische Schriftsteller Mario Schlembach in seinem neuen Roman heute graben, der in diesem Frühjahr im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen ist.
Allein das beschriebene tragikomische Grundszenario ist genial und umschließt spielerisch und bewegend zugleich – eine seltene, verführerische Mischung – wesentliche Fragen der Existenz, Leben und Kunst, Liebe, Krankheit und Tod, Fragen auch, die schon in Schlembachs ersten beiden gelobten und ausgezeichneten Romanen Dichtersgattin (2017) und Nebel (2018) von Bedeutung sind. Die Persönlichkeit und Vita des Autors eignen sich zur Legendenbildung: Schlembach wuchs auf einem Aussiedlerhof auf, der neben einem Lagerfriedhof gelegen war, und arbeitet auch in seinem wirklichen Leben als Totengräber, worüber er regelmäßig für die Tagespresse schreibt.

Das Denken ist entstanden, um Probleme zu lösen, voranzuschreiten – alles andere ist ein Vegetieren im Vergangenen. Stillleben. Vielleicht bin ich eine Pflanze der Liebe.

heute graben besteht aus einer Kette von fragmentarischen Miniaturen, Momentaufnahmen, Reflexionen und Szenerien, die auf den ersten Blick an Tagebucheinträge erinnern, deren Wesensart aber überschreiten und transzendieren. An mancher Stelle erinnern sie sogar an Prosagedichte, die der Autor wie die einzelnen wertvollen Perlen einer Kette in fünf „Heften“ aneinanderfügt. Viele der Textfragmente können auch als isolierte Kurztexte gelesen und genossen werden, wirken aber zusätzlich stark in der Abfolge und dem Kontext mit den anderen Fragmenten. Das bruchstückhafte und gleichzeitig obsessive Erzählen Schlembachs passt zu dem, was er an einer Stelle des Romans die „Liebe im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ nennt, eine Liebe, die ihren Ausdruck findet in einer verknappten – und verknappenden? –, mehr anspielenden als ausschreibenden und sich durch die Unweiten des anonymen Netzes ins Unermessliche spiralisierenden Sprache, die Schlembach in und mit seinem Schreiben einerseits imitiert, andererseits überholt.

Das Ringen und Suchen, das Scheitern und Hoffen, das alltägliche Leben des Protagonisten spult sich in heute graben zwischen Schnitzel essen in der Mittagspause und Röntgenaufnahmen im Krankenhaus ab, zwischen Gesprächen mit zahlungsunwilligen Verwandten von Verstorbenen, Korrespondenzen mit Verlegern und vor allem unzähligen Dates, Träumereien, Sehnsuchtsanfällen, Gefühlswucherungen eines unglückselig Liebenden, der seine große Liebe A. schon zu Beginn des Buches verloren hat. Schlembachs Erlebender und Erzählender kann diesen Verlust nicht verwinden; er begleitet ihn Tag und Nacht, martert ihn und hat ihn dazu getrieben, einen (Liebes-)Roman zu schreiben, den niemand verlegen will.

Müssen meine Teile auch irgendwann ersetzt werden? Lunge? Herz? (…) Der Konzertpianist Paul Orlac verliert bei einem Unfall seine Hände und bekommt die eines Mörders transplantiert. Er glaubt, dass darin noch dessen Seele steckt, der Charakter auf ihn abfärbt und er selbst … Ist das wirklich so, dann wünsche ich niemandem mein sehnsüchtiges Herz.

Nicht zufällig ist der Roman von intertextuellen Verweisen auf andere Werke der Weltliteratur durchzogen, die von der Sprache der Liebe, von Herzschmerz und Identitätssuche erzählen – von Roland Barthes, Pablo Neruda, Fernando Pessoa, Cesare Pavese und Franz Kafka ist unter anderem die Rede, ohne dass ein Gefühl von Schwere oder unangenehmer Bildungsbürgerlichkeit entstünde –, vor allem aber auch von Goethes Werther, mit dem, ich wage jetzt einfach mal diese These, Schlembachs Roman mithalten kann. Die Schilderungen seines „Sehnsuchtsmonsters“ sind teilweise wahnsinnig komisch – das hat der Text Goethes Werk voraus –, so einige der missglückenden sexuellen Aufeinandertreffen des Protagonisten mit diversen Frauen, die er folgerichtig mit allen anderen Buchstaben des Alphabets benennt, und teilweise ergreifend, beispielsweise wenn der geliebte Hund des Helden stirbt oder der Erzähler sich an seinen verstorbenen Großvater erinnert:

Ich habe Opa nie gesagt, dass ich ihn liebe. Auf seinem Bauch einschlafen, während er schnarcht und alte Filme im Fernsehen laufen. Meine Heimat in der kältesten Nacht.

Schlembachs Schreiben wird gerne als autofiktional bezeichnet, was eine Zuschreibung ist, zu der der Autor selbst bewusst vielfache Spuren legt. Nicht nur, indem er seinen Protagonisten die gleichen Berufe ausüben lässt, die er selbst in Wirklichkeit hat – den des Schriftstellers und des Totengräbers –, sondern auch, indem er immer wieder auf smarte und geschickte Weise mit scheinbar autofiktionalen Referenzen spielt. So zitiert er beispielsweise aus Absageschreiben von Verlegern, in denen sie dem Protagonisten erklären, warum sie sein, natürlich ebenfalls autofiktionales, Manuskript nicht veröffentlichen wollen:

Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Qualität Ihres Romans nicht für eine Publikation in unserem Verlag ausreicht. Kitsch und Pathos sind im erheblichen Ausmaß Teile Ihres Textes, wobei sich Ihre Hauptfigur kein Stück weiterbewegt und kaum einmal etwas Individuelles erlebt – die Sonnenuntergänge, Seeleneinblicke und der romantische Liebeswahn haben vielmehr etwas sehr Klischeehaftes.

Was ist hier nun wahr und was nicht? Was Wirklichkeit und was Fiktion? Lieben wir, um zu leben, oder in Wahrheit, um aus unserer angeblichen Liebe Kunst zu machen? Schreiben wir, um zu lieben, anstatt zu lieben, oder gerade wenn wir nicht – wirklich – lieben? „Treffe ich sie nur, weil es eine schöne Geschichte wäre?“, fragt der Erzähler an einer Stelle, an einer anderen heißt es: „Bin ich abhängig vom Leiden geworden, weil ich denke, erst dort schreiben zu können?“

So wirft Schlembach in heute graben zahlreiche nennenswerte Fragen auf, die uns Menschen umtreiben können und sollen, er spielt mit Wahrheit und Betrug und spinnt ein bestrickendes Netz aus wahren Lügen, true lies, deren Lektüre ein umfassend sinnlicher, kluger und gefühlvoller, auch sprachlich überzeugender Genuss ist.

Dank an Ulrike Schrimpf

  • Mario Schlembach: heute graben. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau 2022. 192 Seiten, 12 x 20. 20 Euro.

Wir freuen uns über eine Unterstützung unserer Autor:innen!

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