Jan Bratenstein: Alles Arschlöcher überall (Carpathia Verlag)

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Nach einem Auftritt mit seiner Jazzband in einer fremden Stadt ist es Tom Peter noch nicht nach den eigenen vier Wänden, er sucht Gesellschaft. Die findet er im Café Exquisit, das weder durch exquisite Getränke, exquisite Küche oder wegen eines exquisiten Publikums diesen Namen verdient hätte. Was Tom Peter dort aber findet, ist dieses Gefühl des Am-Richtigen-Platz-Seins und eine aufrichtige, sympathische Trinkergemeinschaft. Doch während er noch freundlich in die Gepflogenheiten der Spelunke eingeführt wird, betritt eine Gruppe unangenehmer Mitmenschen die Kneipe, was erst die Stimmung zum Kippen bringt und letztendlich den ganzen alkoholvernebelten Abend so eskalieren lässt, dass es am Ende nur heißen kann: wir oder die. Verschanzt im Etablissement, den Feind auf der gegenüberliegenden Straßenseite, lernt man den einen oder anderen Saufkumpanen – und sich selbst – von einer ganz neuen Seite kennen.

Alles Arschlöcher überall ist ja wirklich ein sehr unfeiner Titel. Aber wer nicht schon einmal diesen Satz gedacht hat, werfe den ersten Stein. Nein, geziert ist weder Titel noch der Inhalt, nichts bleibt vage oder angedeutet, nichts, aber auch gar nichts unausgesprochen. Derb sind die Spitznamen der ProtagonistInnen, die Dialoge und die Erläuterungen der Sachverhalte, die Sprache ist laut und patzig und stachelig. Und sie ist bildhaft umschreibend, explizit und so abwechslungsreich, dass es eine Kunst ist. Selten kommt es vor, dass für etwas erneut dasselbe Wort verwendet wird, meisterlich wird mit Synonymen jongliert.

»Toilette ist da hinten«, leuchtete Lina freundlich den Weg für Tom Peter, der einfach nur suchend aussehen musste, um die gestandene Wirtin seine Wünsche aus der Luft lesen zu lassen.
»Zutiefst verbunden.« Er war sichtlich gerührt. Ummuttert. Der Klarinettist wollte sich nur noch in den Busen dieser Kneipe legen und nie wieder gehen. Aber erst Pipi.

Schon auf der zweiten Seite ist man mittendrin, im Sog der Sprache Jan Bratensteins, der sonst, wenn er keine Romane im zehn Jahre alten Berliner Carpathia Verlag veröffentlicht, als „The Black Elephant Band“ Songtexte schreibt. Man liest Sätze, die kann man nicht für sich behalten. Mein Mann schätzt es nicht besonders, wenn ich ihm in die Tagesschau hineinrede, um aus meiner Lektüre zu zitieren, doch die Unmittelbarkeit der Wortwahl trifft einen teils unvorbereitet, und man möchte das gern mit jemandem teilen. So weiß er auch gleich, warum ich beim Lesen schnaube und lache und mich freue. Das Buch ist ein großartiges Leseerlebnis. Was für ein Chaos! Die kurzen Kapitel, es sind 99 auf über 340 Seiten, enden oft mit einem Cliffhanger, an ein Beiseitelegen des Romans ist nicht zu denken.

Er ist in meinen Augen voller Hauptfiguren, denn obwohl die Geschichte mit Tom Peter beginnt, widmet sich die Handlung nach und nach den mitgehangen-mitgefangenen KneipeninsassInnen. Mich störte das Stereotype an den Beschreibungen beider Konfliktparteien nicht, denn durch die vielschichtige Zeichnung der Charaktere macht der Autor das Liebenswerte hinter dem Klischee sichtbar. Und das zum Teil sehr rührend.

Es soll bei allem abstrusen Humor nicht der Eindruck entstehen, dies sei ein oberflächlich konstruierter Unterhaltungsroman, denn er ist tatsächlich mit Fortschreiten der Eskalation zunehmend tiefsinnig und thematisiert Radikalisierung, Gruppendynamik und stellt generell die Frage nach der Definition von Menschlichkeit. Eine gewisse Moral und Philosophie kann man dem Buch nicht absprechen, eingebettet in anspruchsvolle Pöbeleien.

Das Buch hat meine Erwartungen übertroffen, mit einer ansprechenden Optik, hervorragendem Unterhaltungswert, sprachlicher Abwechslung, ausgefeiltem Humor, einer gewissen Unvorhersehbarkeit und wunderbaren Figuren hat es mich überzeugt. Und ganz nebenbei und ganz leise enthält es eine der schönsten Liebeserklärungen, die ich je gelesen habe.

Dank an Julia Moldenhauer

  • Jan Bratenstein: Alles Arschlöcher überall. Berlin: Carpathia Verlag 2022. 344 Seiten, Hardcover. 25 Euro.

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