Anna Herzig im Gespräch mit Iris Blauensteiner

Foto Pixabay

Mit ihrem in diesem Frühjahr erschienenen zweiten Roman Atemhaut (Verlag Kremayr & Scheriau) hebt uns die vielseitige und vielseitig-faszinierende Filmemacherin und Schriftstellerin Iris Blauensteiner auf höchstem Level in andere Sphären.
Mit Anna Herzig hat sie gesprochen über erstickende Texte, Atemhautsound, temporeiche Passagen, zärtlich-intensive Konstrukte der Atemhaut-Entstehungsgeschichte, musikalische Experimente und Hände, die in die Welt greifen.

Und tief einatmen!


Liebe Iris, in welchem Level bist du gerade und wer wäre dein End-Boss?

Du beziehst dich mit dieser Frage bestimmt auf Edins – der Protagonist von Atemhaut – Leidenschaft fürs Computerspielen. Er verfolgt das so intensiv, weil die Zielgerichtetheit seiner Handlungen, die darin möglich ist, auch seinem Wunsch nach Sinn und Kontrolle in seinem Leben entspricht. Im Roman wird das Spielen eines Ego-Shooters aus den 90er-Jahren beschrieben: eine vereinfacht lineare Heldenerzählung, im Rahmen derer sich Edin mächtig fühlen kann.

Dein Atem ist stabil, keine Unregelmäßigkeiten. Du befolgst die Regeln. Und du lernst, wie du gewinnst.

Wie kam die Idee zu einem Atemhaut-Sound auf ?

Rojin Sharafi komponiert wunderbare akustische und elektronische Musik. Wir kennen, schätzen und mögen uns u. a. von der gemeinsamen Arbeit an einem meiner Filme, bei dem sie das Sounddesign gestaltet hat. Ich habe sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte einen literarischen Text mit Sound zu kombinieren. Wir haben begonnen gemeinsam zu entwickeln, das ging ca. über ein Jahr, immer wieder in Phasen, wir haben Ideen ausgetauscht, probiert.
Erweiternd zu einer Lesung gibt es auch die Möglichkeit einer Literatur-/Sound-Performance von Rojin und mir, in der wir mit dem Lesungs-/Konzertformat experimentieren.
Ebenso dankbar bin ich, dass sich der Verlag Kremayr & Scheriau auf dieses interdisziplinäre Experiment eingelassen und uns vertraut und unterstützt hat. So wie ich auch die Arbeit mit meiner Lektorin Marilies Jagsch sehr geschätzt habe (wenn wir hier gerade von Zusammenarbeiten sprechen!).

Iris Blauensteiner (Foto Marisa Vranješ)

Wer hat für dich Heldenhände?

Heldenhände hat erst einmal jemand, der oder die sich als Held sieht und auf die eigenen Hände schaut. Wie und wofür diese Person sie dann einsetzt, ist die andere Frage.
Edins Hände sind ein wiederkehrendes Motiv im Roman. Edin blickt auf sie, um festzustellen, in welcher Welt und Wirklichkeit er sich gerade befindet. Auch auf welchen Körper er sich gerade bezieht, bewohnt er doch so viele Rollen zugleich.

Ein Funke von Bewunderung in Vanessas Augen ist wie eine warme Dusche, ein gemütlicher Frühstücksmorgen, kühler Bierschaum am Nachmittag und die Option auf eine andere Welt, eine wählbare Abzweigung, manchmal.

In welchem Buch, Film oder welcher Filmadaption hast du die für dich beeindruckendste Dramaturgie erlebt?

Mich beeindruckt es, wenn Inhalt und Form Struktur und Chaos verbinden. Zu etwas verzweigt Komplexem und zugleich klar Erkennbarem formen.
Was mir momentan einfällt: Bücher: Annie Ernaux: Der Platz, Agota Kristof: Gestern, Magdalena Schrefel: Brauchbare Menschen. All time favourite Filme: Nothing personal (R: Urszula Antoniak), Western (R: Valeska Grisebach). Oder auch kurze Formate wie der aktuelle Film von Anna Spanlang: CEREAL / Soy Claudia, soy Esther y soy Teresa. Soy Ingrid, soy Fabiola y soy Valeria.

Es ist unbestreitbar: Atemhaut besticht durch ein rasantes Erzähltempo, durchgängig mit viel Finesse gehalten. Hat Edin das vorgegeben oder Vanessa oder ist es gar das Heldentempo?

Automatisierungsprozesse und Digitalisierung treten in Edins Lebensrhythmus. Schnelligkeit. Marktlogik. Arbeitsethos. Nützlichkeit. Leistung. Hinterherhasten. Funktionieren. Zeitmarker. Pensum erfüllen. Gewinnen. Und dann zufrieden heimgehen. Edin lebt in einem Narrativ von Aufgehobensein, einen Platz haben, erst genug sein, wenn man bloß genug leistet.

Dich überkommt eine glasklare Distanz, als wärst das nicht mehr du, als könntest du hin- und herspringen zwischen deinen Ichs. Diese Distanz kannst du vielleicht auch Mut nennen. Du bist in Sicherheit und dadurch stets in deiner doppelten Kraft, durch die Falltür deines zweiten Ichs kannst du immer entkommen. Wenn du stirbst, hast du eine zweite Chance, und danach noch eine und so geht es immer weiter. Du kannst nicht verlieren.

Was muss man einem Roman unbedingt geben, damit er „lebt“? Und was lässt einen prosaischen Text am ehesten ersticken?

Das Dazwischen lebt, die Leerstellen, die Ellipsen, die über den Text hinausweisen und die von Leser*innen im Dialog mit dem Text gefüllt werden können. Ich würde sagen, ein Text erstickt, wenn zu wenig oder zu viel hineinpasst.

Du verteidigst deinen Platz, funktionierst in der Ordnung. Beweise genug dafür, dass es dich, diesen Helden, gibt.

Danke Anna Herzig und Iris Blauensteiner!

Leseprobe

Interview in der Buchkultur

  • Iris Blauensteiner: Atemhaut. (Sound Rojin Sharafi). Wien: Verlag Kremayr & Scheriau 2022. 160 Seiten, gebunden, 12 x 20 cm. 20 Euro. E-Book: 14,99 Euro.

Wir freuen uns über eine Unterstützung unserer Autor:innen!

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