Im Gespräch mit Anna Herzig

Normalerweise führt Anna Herzig hier seit einem Jahr die Gespräche (= Gespräche mit Anna Herzig). Sie stellt sanfte Fragen, direkte, tiefgehende, kundige, unbequeme, wissbegierige, überraschende, persönliche und sie fragt aus dem Herzen heraus. Ob Schriftstellerinnen grundsätzlich anders fragen, weil sie eine Ahnung haben, worum es beim Schreiben geht?

Anna Herzig (Foto Leben)

Denn Anna Herzig schreibt. 2018 erscheint ihr schmales Prosadebüt Sommernachtsreigen (Voland & Quist), das mich damals bei einer Lesung der Autorin zum Schmelzen bringt. Es ist der Ton, das Melodisch-Leise in der Stimme, der aus Wien gebürtigen Autorin (geb. 1987) mit ägyptischen und kanadischen Wurzeln. Es folgt die Geschichte vom Herr Rudi (2020), die ebenfalls im Verlag Voland & Quist erscheint, und eine große Leserschaft berührt. Herr Rudi war daraufhin ein bisschen überall. Wer wie Herzig in diesem Buch eine Badewanne mit Blaubeeren füllen kann, in die Tränen der Trauer und des Verlusts vergossen werden, der zeigt ein Gespür für Farbenwürze und Seelentiefe.
Eineinhalb Jahre hat Herzig dann an ihrem Romandebüt Die dritte Hälfte eines Lebens geschrieben, das jetzt im Frühjahr im Salzburger Otto Müller Verlag veröffentlicht wurde. Es ist so schlank wie alle ihre Bücher und erzählt doch vom ganzen Menschen, von dessen Verhalten, Nichtverhalten und Missverhalten. Sie traut sich darin, „an einem abgearbeiteten Thema sich abzuarbeiten“. Auf ihre eigenwillige, sehr besondere Weise. Es ist ein sichtlich schmerzhaftes wie schillerndes, queeres Buch über soziale Ausgrenzung, das Zurichten von Kindheit, die Kraft des Andersseins und zärtliche Komplizenschaft. Anna Herzig zeigt in Die dritte Hälfte eines Lebens literarische wie menschliche Größe./sw

Los!

Alles könnte ich erzählen. Über Krimmwing und die

Menschen. Die Schmerzen, die sie einem zufügen.

Dass es keinen Unterschied macht, was man gehört

hat, was die Leute sagen oder wie sehr man sich bemüht.
Die Übung besteht darin, sich nicht in

Nebensätzen zu verirren.

Liebe Anna, dein Roman spielt ab den 1970ern im Dorf Krimmwing. Gehst du davon aus, dass es auch heute noch Krimmwings und kleine Seppis in Österreich gibt? Fändest du das erschreckend?

Ein Rezensent hat unlängst geschrieben: „Krimmwing ist überall“, und das möchte ich mir nun als Antwort ausborgen.
Wobei man auch sagen muss, dass das oder ein Dorf an sich ja nie das Problem ist, sondern die Menschen, die dort leben und wie sie übereinander richten.
Krimmwing ist der mentale Zustand unserer Gesellschaft, die post 2020 schärfer und härter urteilt als jemals zuvor. Eine, die den „Nicht- Angepassten“ und den „Nicht-Funktionierer“ ausschließt, isoliert und der Gruppe zeigt: Schaut gut dorthin, zu dem, der alleine von dannen zieht, so wollt ihr nicht enden.

Es sind die kleinen Verbrechen an der Seele,

die die inneren Blutungen ausmachen.

Was hat dich zu deinem Roman inspiriert? War zuerst das Dorf Krimmwing da oder eine der Figuren?

Zuerst war die kleine Anna da. Vierjährig und dunkel am Land in den Neunzigern, von der Großtante in Pflegschaft genommen, begleitet vom Flüstern der Leute, das auf der Haut gebrannt hat. Nein, Krimmwing ist nicht Waidhofen/Ybbs.

Wie hast du die Stimmen für deine Figuren gefunden, die eigentlich keine Stimme oder Sprache besitzen für ihr Inneres und das Äußere?

Findest du tatsächlich, dass sie keine Sprache besitzen? Alles, was sie tun oder eben nicht, schreit schon sehr, sehr laut. Ich mag es zu drehen und zu schrauben und zu sehen, was passiert, wenn ich meine Figuren nicht mit massig Dialog oder Monolog belade. Sehen, was dann von der Geschichte (und den Figuren) noch übrigbleibt und ob das dann immer noch erzählenswert ist. Ich liebe das Mittel der Reduktion.

Dein Schreiben kreist fundamental um Menschen, Menschliches, Niedriges wie Erhabenes, und besondere Konstellationen. Hat sich dieser Roman aus seinen Vorgängern entwickelt?

Ich bin sehr introvertiert, auch wenn das auf meinen Social-Media-Kanälen nicht so wirkt. Den Großteil meiner Zeit zerklaube ich menschliches Verhalten und beobachte eben dieses äußerst penibel. Zwischenmenschlichkeit zu ergründen ist eine Art Sucht für mich. Das sind Prozesse in mir, die ständig stattfinden.

Manchen liegt ein antrainiertes Feingefühl für
alles Mögliche zugrunde. Wegen emotionaler
oder eben nicht emotionaler Dinge, die zwischen
Eltern und Kind in der prägendsten aller
Zeiten passiert sind

Interessiert es dich Grenzen der Moral und der Freiheit auszuloten?

Es gibt keine moralischen Grenzen. Das interessiert mich. Und Freiheit ist die größte Illusion in den Köpfen der Menschen. Man kann Freiheit erahnen und minuten-, vielleicht stundenweise Freiheit genießen, aber ist man wirklich jemals frei? So richtig?

Zwei Drittel eines Lebens auf 130 Seiten. War das schwer?

Reduktion, Reduktion, Reduktion.
Ich halte mich an Stephen King, der gesagt hat: First Draft is second draft – 10 %.
Für mich wäre es eher schwer, 300 Seiten schreiben zu müssen. Da bin ich leider stur: Wenn ich nichts mehr zu sagen habe, habe ich nichts mehr zu sagen.

Du schreibst von Grausamkeiten und an anderer Stelle von Sternenstaub. Geht das eine nicht ohne das andere?

Ich glaub tatsächlich, dass man das eine ohne das andere nicht schätzen kann und umgekehrt.

Die Zweiteilung deines Romans ist interessant: Bedeuten die Teile „Was man gehört hat“ und „Was die Leute sagen“ nicht ein und dasselbe? Es geht um Gerede, Vorverurteilung und Diskriminierung. Und vor allem nicht ums Zuhören und die Wahrheit. Was sagst du?

Die Frage ist: Wann ist denn etwas die Wahrheit?

Senta Wagner bedankt sich bei Anna Herzig für das Gespräch!

  • Anna Herzig: Die dritte Hälfte eines Lebens. Salzburg: Otto Müller Verlag 2022. 132 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 22 Euro. E-Book 18 Euro

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