Henry David Thoreau: Chesuncook (Jung und Jung Verlag)

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Einmal einfach nur fort vom Alltagsstress, am besten irgendwohin, wo niemand stören kann – auf eine einsame Insel oder in eine abgelegene Hütte im Wald.
Der Wald als Sehnsuchtsort für all jene, die zurück zur Natur finden möchten, ist in der Literatur kein unbeschriebenes Blatt. Bereits vor mehr als zweihundert Jahren prägte der deutsche Schriftsteller Ludwig Tiek den Begriff der „Waldeinsamkeit“, in den letzten Jahren wurde die Thematik des Zu-Sich-Selbst-Findens-im-Wald auch zunehmend aus weiblicher Perspektive erkundet, wie etwa in Doris Knechts Wald (2015) oder in Jana Volkmans Auwald (2020). Der Wald gilt als Energiequelle und als Ruhepol, doch wird die Realität dieser Waldromantik tatsächlich gerecht?

Nachdem er sich für mehr als zwei Jahre in einer selbst gebauten Blockhütte in den Wäldern von Concord, Massachusetts, zurückgezogen hatte, unterbrach der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau seine Arbeit an dem Manuskript, aus dem 1854 mit Walden oder Leben in den Wäldern schließlich eines der wohl bekanntesten Waldbücher entstehen sollte, um in die Wälder zurückzukehren. Nahe des Chesuncook Lakes in Maine wollte er die Lebensweise und Sprache der indigenen Völker studieren, Elche aus nächster Nähe beobachten und sich ein Bild von den urtümlichen Kiefernwäldern machen. Doch diese romantischen Vorstellungen wurden bald von einer desillusionierenden Wirklichkeit eingeholt.

Was der scharfe Beobachter Thoreau zu sehen bekam, war keine unberührte Wildnis. Die Spuren der Ausbeutung der Natur für Holz und Fleisch waren unübersehbar. Thoreaus Begleiter erlegten Elche mehr zum Zeitvertreib als aus Notwendigkeit. Nachdem sie dem getöteten Tier die Haut für Mokassins abgezogen hatten, schnitten sie die besten Stücke Fleisch aus seiner Keule und ließen den riesigen Kadaver einfach zurück. Beschrieb Thoreau in früheren Berichten noch eine unbezähmbare Wildnis, wurde ihm nun die Bedrohung der Natur durch den Menschen vor Augen geführt. So kam er am Abend der ersten Elchjagd zu dem Schluss:

Die Erlebnisse dieses Nachmittags ließen mich erkennen, wie gemein und roh die Motive sind, die Menschen im Allgemeinen dazu bringen, in die Wildnis zu gehen.

Die blutige Gewalt der Jagd verstörte ihn, trotzdem kam er nicht umhin zuzugeben, dass ihm das Fleisch des erlegten Tieres dann schon auch gut schmeckte. Thoreaus Inkonsequenz lässt schmunzeln, hält sie den Lesenden doch einen Spiegel vor.

Chesuncook, der Text, der schließlich aus Thoreaus Notizen entstand und im Dezember 1853 zunächst als Vortrag präsentiert wurde, gelangte erst 1858 zur Veröffentlichung, als er zwischen Juni und August in drei Teilen im Magazin Atlantic Monthly erschien. In deutscher Übersetzung liegt er jetzt im Verlag Jung und Jung vor. Allerdings fehlte damals der zentrale Satz über die Kiefer, in dem der Autor den Wert des Baumes mit dem eines Menschenlebens gleichsetzte:

Seine Seele ist so unsterblich wie meine und wird vielleicht in einen ebenso hohen Himmel erhoben, um dort weiter über mir aufzuragen.

Diese Zensur wollte Thoreau nicht ohne Beschwerde hinnehmen. Wie die Elchjagd, so sah er auch in der Holzwirtschaft eine Bedrohung für den Lebensraum Wald.

„Seltsam, dass kaum jemand in die Wälder geht, um zu sehen, wie die Kiefer lebt und sprießt“, stellte er nachdenklich fest, „[…] den meisten genügt es, sie in Form einer Menge breiter Bretter auf dem Weg zum Markt zu sehen.“

Konnte er den Trampelpfaden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zuvor noch entfliehen, so folgten ihm ihre Spuren nun bis in die Wälder. Mit Nachdruck wies der Autor auf die Folgen eines achtlosen Umgangs mit der Natur hin:

Irgendwann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als an der Erdkruste zu nagen, um uns zu ernähren.

Chesuncook war seiner Zeit voraus. So nahm der Autor, wie der Übersetzer Alexander Pechmann in seinem Nachwort betont, mit seinem Schlussplädoyer für die Errichtung von Naturreservaten auch Bestrebungen von Naturschützern wie John Muir vorweg. Noch sind diese unberührten Orte nicht gänzlich Fiktion geworden. In seinem bemerkenswert aktuellen Essay erinnert uns Henry David Thoreau an die Wichtigkeit, sie zu bewahren.

Dank an Barbara Seidl

  • Henry David Thoreau: Chesuncook. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Pechmann. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2022. 160 Seiten. 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.

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