Lüthi liest (im April): Immergleich, Altbekannt, Oftgehört

Wenn Urs Engeler in seinen soeben erschienenen Poetikvorlesungen Poesie und Wiederholung festhält, „dass es in der Poesie wesentlich um Wiederholung geht“, meint er damit nicht zwingend nur die sprachliche und lautliche Wiederholung (die natürlich auch), sondern vor allem die inhaltliche. Wiederholt wird in der Poesie „[d]as, wovon sie spricht“. Ein anderes Wort, um diese inhaltliche Wiederholung zu beschreiben, ist Variation. Das ständige Neu-Denken, Um-Changieren des Immergleichen. Das etwa, was Franz Dodel mit seiner Lyrik (neuer Band kommt im Sommer) sehr bewusst und schon sehr lange tut. Ein Gleichschritt der Repetition, der nie langweilig wird.

Die Variation, oder auch der Variantenreichtum, ist deshalb eine spannende Analysekategorie, will man der Poesie (im Sinne der Variation: Lyrik, Dichtung) zu Leibe rücken. Und sie ist zentraler Gegenstand der drei Bände, die ich etwas genauer betrachten möchte. Mein Hirn: ein See von Ágnes Nemes Nagy (roughbooks), auch solche tage waren immer schon da von Katrin Pitz (ELIF VERLAG) und Carruthers Variationen von Urs Allemann (Klever Verlag). Am offensichtlichsten hat sich die Variation (oder Wiederholung) bei Allemann bereits in den Titel geschlichen. Aber auch bei Pitz ist sie unschwer zu erkennen, an der Allgegenwärtigkeit der Tage. Und auch bei Nagy erlaubt uns die Benennung „ein See“ zu schlussfolgern, dass es immer der gleiche See sein wird, in den wir in den Gedichten hineinsteigen werden.
Interessant ist nun die Frage, wie in diesen drei Bänden die Variation gestaltet wird, denn vorerst eint das Debüt einer preisgekrönten jungen Autorin, das Alterswerk eines preisgekrönten etablierten Autors und die Übersetzung einer preisgekrönten verstorbenen Autorin nur wenig.

Telegraphierende Fichten

Die wohl wichtigste ungarische Dichterin Ágnes Nemes Nagy (1922–1991) wäre dieses Jahr hundert Jahre alt geworden. Vermutlich ist dieses Jubiläum also mit ein Anlass, für diese neu erschienene Auswahl ihrer Gedichte Mein Hirn: ein See; herausgegeben (und grösstenteils übersetzt) von Christian Filips und Orsolya Kalász. In siebzig Gedichten führt der Band durch die Lyrik Nagys, geordnet wie eine lyrische Versuchsanordnung der Natur: Arboretum, Botanicum, Bestiarium, Aquarium, Atmosphärenkunde, Anorganicum, Geometricum, Gott, Monster und andere Posthumanoide. Die Kapitelnamen verraten es, die Natur bildet den zentralen Gegenstand der Gedichte. Und Versuchsanordnung trifft es hier wirklich, wird doch zu jedem Kapitel mit beinahe wissenschaftlicher Präzision an den Parametern geschraubt, um in leichter Variation einen neuen Versuch, eine neue lyrische Ordnung der Welt zu erschaffen. Damit wären wir also schon bei der Variation. (Und hier nur am Rande: in Nagy bloss eine Naturlyrikerin zu sehen ist noch lächerlicher, als dies bei Erika Burkart zu tun.)

Anstelle aber auf den Band, die Motive und die Variation im Grossen zu fokussieren, möchte ich den Blick lieber auf die Übersetzung – und auf ein bestimmtes Gedicht – lenken. Der Band ist zweisprachig und macht selbst auch immer wieder klar, dass er eine Übersetzung ist. Passend also, dass der Band in der von Urs Engeler verlegten Reihe roughbooks erscheint, denn das grundsätzliche Problem der Übersetzbarkeit von Lyrik ist auch in den Poetikvorlesungen Engelers ein zentrales Thema. Am deutlichsten geschieht diese Sichtbarmachung der eigenen Übersetztheit an dem Gedicht „Ugyanaz“, das in nicht weniger als 26 Versionen von sechs verschiedenen Übersetzer:innen (Christina Kunze, Eva Zador, Franz Fühmann, Felix Schiller & Filips und Kalász) abgedruckt ist. Hier nur zur Illustration vier verschiedene Fassungen:

Ebenda
Jetzt sind alle Fichten Telegraphen.
Müssen nicht mehr Fichten sein und brav,
können morsch im Jenseits schlafen.

Noch was in der Art
Die Fernmeldemasten, einst Kiefern,
sie haben jetzt nichts mehr zu liefern.
Werden zu seligem Humus, posthum.

Urangas (Oberfläche)
Erzürne, Ostlerblock! Ein Wald-Fan blökt.
Farnsofa, etwas Sülze klebt.
Öko-Radarschutz, Marsch ins Pentagon.

Das auch noch
Die Telespargel, einstes Eiben.
Als Erlöste kann man sie beschreiben,
in alle Ewigkeit morsch.

Die Variation ist gerade in Anbetracht des gerade einmal dreizeiligen Ursprungsgedichts erstaunlich. Sie erklärt sich einerseits durch die Schwierigkeiten, die das Ungarische für eine Übertragung ins Deutsche bietet, andererseits aber auch dadurch, dass im Original zum Beispiel das Nadelholz (Pinaceae) unbestimmt ist, wir also nicht wissen, ob wir es mit einer Fichte, einer Tanne oder einer Kiefer (oder einem Farnsofa) zu tun haben. Wir haben es – nebst der wilden Ansammlung von Kieferngewächsen – zu tun mit sich reimenden Übersetzungen (das originale fenyök/ ök nachahmend), mit Komposita, Telegraphenstangen und -masten und Moder, mit Jenseits, Fäulnis und – persönlicher Favorit – Humus; alle Texte dem Original mehr oder weniger treu bleibend. Respektive eine Lesart des Originals in einer deutschen Entsprechung anbietend. Wenn man das im übertragenen Sinne lesen möchte, liefert der Band damit die Antwort auf die Frage nach der Übersetzbarkeit von Gedichten: möglich nur in der Variation. Oder anders: Die Vielzahl an Leseerfahrungen, die Mehrdeutigkeit (Wiederholung, Variation), die ein (gutes) Gedicht im Original idealerweise anbietet, kann nur in einer ebensolchen Vielzahl einigermassen adäquat wiedergegeben werden.

Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Variation (oder Wiederholung) in Mein Hirn: ein See zweiartig realisiert wird. Zum einen eben als Übersetzung, der keine andere Möglichkeit gegeben ist, insofern die ursprüngliche Mehrdeutigkeit der Ursprungstexte erhalten werden soll (Tipp von Filips im Nachwort übrigens: „Lernen Sie Ungarisch!“). Zum anderen natürlich in den Themen. Die Natur dient Nagy immer auch als Spiegel und als Ort des Versteckens, um die Mehrdeutigkeiten, die überhaupt eine solche Vielzahl an Leseerfahrungen zulassen, (mitunter wortwörtlich) hinter Bäume zu packen. Trotz der im Band blossgestellten Unzulänglichkeit der Übersetzung gelingt dem Duo Filips/Kalász Außergewöhnliches: Die Auswahl der Gedichte ist so geschickt angelegt und komponiert, ich habe erst am Schluss gemerkt, dass es sich hier tatsächlich um eine Auswahl handelt und nicht um ein integral übersetztes Werk. Ein hervorragender – variantenreicher – Einstieg also in die lyrische Welt von Ágnes Nemes Nagy (Und wer jetzt noch mehr lesen möchte: Der „Echnaton-Zyklus“ (Ekhnaton jegyzeteiből) wurde auch schon übersetzt und soll bald andernorts erscheinen. 2021 ist im Pop Verlag Ludwigsburg unter dem Titel Sonnenwenden ebenfalls eine Auswahl von Gedichten Nagys erschienen. )

„die hörweite klein in den nautischen meilen“

In ganz anderer Form präsentiert sich die Variation in auch solche tage waren immer schon da von Katrin Pitz. Das Debüt der Siegerin des Leonce-und-Lena-Preises 2021 kehrt den Blickwinkel um. War er bei Nagy nach Aussen, in die Natur gerichtet, wird er nun nach Innen gedreht. Ein Ich und ein Du stehen im Dialog. Wobei das Du hauptsächlich schweigt und sich die Du-Botschaften des Ichs (man denke sich da einen erbosten (frühen) Schulz von Thun) an den Kopf werfen lassen muss. In diesem zwischenmenschlichen Spannungsfeld verortet Pitz ihre Gedichte.

Die Gedichte lesen sich als Vignetten des Alltags. Da werden die Honigtöpfe leer bei Krankheit, mit Fäusten werden Bilder gemalt und de Beauvoir wird nicht gelesen. In der häuslichen Behaglichkeit verlaufen die Bilder zur Wiederholung: das stetige Neuerleben des Gleichen in einem fixierten Raum. Dieser Raum mag hier eher zwischenmenschlich als tatsächlich örtlich fixiert sein, aber die Grundwirkung bleibt die gleiche:

wo steckt uns das lachen
der halt scheint mir kein adäquater ort

ich glaubte einmal an : ein eigenes wort
ein lemma unserer zuwendung – herausgebrochen
aus deinem meinem körper – rahmen
die einmal fabrikneue spielsteine hielten
mit denen man wusste was tun

auf den knien vorm couchtisch
reste wohliger einvernehmlichkeit

Die Variation lässt sich bei Pitz also im Alltag, im Selbstverständlichen finden. Pitz arbeitet sich an dieser Selbstverständlichkeit mit viel sprachlicher Lust und einem klaren Rhythmus ab. Die Gedichte haben oft einen ähnlichen, durchdringenden Duktus, der, damit sind wir wieder beim Zwischenmenschlichen, oft wie ein monologisierter Dialog funktioniert. Die Spannungen des Selbstverständlichen, wenn man so will. Pitz zimmert daraus aber nicht eine langweilige, selbstverliebte Nabelschau, sondern eben eine Poesie der leisen Töne, die sich in die Verwerfungen der Tage hineinarbeitet und dort nach dem poetisch Begreif- und Ausdrückbaren sucht. Die Tage wiederholen sich und doch beginnt mit jedem etwas Neues, noch Unbekanntes, vielleicht sogar Undenkbares. Denn auch das kann die Poesie, dem Altbekannten neue Frische abgewinnen und es in feiner, genau gearbeiteter Sprache mit unbekannter Schärfe hervorzuschaufeln. Und da wir es gerade vom Schaufeln haben –

Ein Spaten. Eine Beichte.

Nicht nur in die spatengehobenen Löcher begeben wir uns mit Carruthers Variationen von Urs Allemann, sondern auch an die Grenzen der Poesie. In den Variationen wird eine Obsession zu einem Satz so sehr Teil des schriftstellerischen Lebens, dass sich die darin gemachte Aussage schlussendlich als Wahrheit manifestiert:

Ich hatte den alten Carruthers mit dem Spaten niedergeschlagen.

In allen erdenklichen Variationen erklingt fortan dieser Satz. Allemann (der Erzähler) rätselt, warum er von diesem Satz verfolgt wird, warum der Satz so unpräzis ist („niedge“-Wucherung) und dann auch noch in der falschen Zeitform steht: „Erzähler-Plusquamperfekt“ anstelle des „Bekenner-Perfekt[s]“. Auch für das Fortbestehen verschiedener Ehen erweist sich der Satz als Hemmnis. Und schlussendlich folgt dann, was folgen muss, Erzähler Allemann setzt den Satz in die Tat um. Zieht dem alten Carruthers eins über die Rübe. Mit dem Spaten. Dieser fällt zu Boden und Allemann kommt dahin, wo er hingehört, ins Loch. Natürlich nur, um dann im nächsten Kapitel die Unwahrheit des Satzes zu bekräftigen. Oder im Schlaf die Tat zu vergessen. Und weitere philosophische Zerwürfnisse aufzuwerfen. Allemann (Erzähler & Autor) baut diesen Konflikt so auf, dass der Satz um den alten Carruthers in allen denkbaren Varianten wahr oder unwahr wird.

In Anbetracht der Poetologie von Urs Engeler stellt der variantenreiche Carruthers-Satz aber eine ganz andere, wichtigere Frage: Ist das Poesie? Oder sind das keine Gedichte, weil Erzähler-Allemann sagt: „Ich hätte gerne Gedichte geschrieben, habe aber, im Bann meines Satzes, nie eines zustande gebracht.“
Liest man den Band unbedarft durch, ist die erste Antwort einfach: Es ist keine Poesie. Weil sehr prosalastig und dann doch, über die Gänze hinweg, einem klaren Narrativ folgend. Man kann aber ebenso gut – verlässt man die inhaltliche Ebene und schaut sich die hier verwendete Sprache und deren Funktion an – zum gegenteiligen Schluss kommen: Es ist eindeutig Poesie. Weil es im Kern nur um diesen einen Satz geht. Der in Prosagedichten und Versatzstücken präsentiert, wiederholt (bis zum Exzess wiederholt) und variiert wird. Und auch auf verschiedenen Deutungsebenen dargeboten wird. Es wird Ihnen auch klar sein, grundsätzlich liegt mir relativ wenig daran, mich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Viel wichtiger erscheint es mir, dass der Band diese Fragen überhaupt aufwirft und sie in einem eigenen Wirkungskontext an die Wand projiziert, wo sie dann in Übergrösse zu betrachten sind. Der Gewinn ist offensichtlich, auch bei einer ausbleibenden abschliessenden Antwort.

Jetzt bin ich bei Weitem nicht der Einzige, der die Fragen nicht eindeutig beantworten will, auch Engeler liefert in seinen Poetikvorlesungen ganz bewusst keine abschliessenden Antworten. Denn ein Gedicht „arbeitet an der Fraglichkeit“. Wenn wir also Antworten suchen, dann müssen wir davon ausgehen, dass sie zumindest zu Teilen bereits in den Fragen, die ein Gedicht uns stellt, enthalten sind. Das ist natürlich unbefriedigend, ich weiss. Aber es ist – so glaube ich – auch der besondere Reiz der Poesie. Das, was Engeler als „mehr an Bedeutung“ beschreibt, die konstante, durch Sprache hervorgerufene Überforderung. In der Essenz wird diese Überforderung aus der Variation hervorgerufen. Eine ästhetische Erfahrung, die sich im Immergleichen, im konstanten Neu-Lesen, -Erfahren, -Fühlen des bereits Bekannten entlädt. Um ein wenig biblisch zu werden: In der Variation liegt die Kraft, zumindest die poetische. Wer mir nicht glaubt, derjenigen seien die drei (vier) hier vorgestellten Bände empfohlen, als in Poesie geführte, poetologische Thesen, dass Poesie wiederholt/variiert/erneuert/repetiert/wiederkäut.

Ein poetischer Dank an Nick Lüthi (Fotos Nick Lüthi)

  • Urs Allemann: Carruthers Variationen. Wien: Klever Verlag 2022. 112 Seiten, gebunden. 18 Euro.
  • Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See. Herausgegeben und aus dem Ungarischen übertragen von Christian Filips und Orsolya Kalász. Schupfart: roughbooks 056, 226 Seiten, broschiert. 18 Euro.
  • Katrin Pitz: auch solche tage waren immer schon da. Nettetal: ELIF VERLAG 2022. 112 Seiten, gebunden. 20 Euro.

Wir freuen uns über eine Unterstützung unserer Autor*innen!

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