
Die in Wien lebende, sehr sympathische Hamburgerin Lena-Marie Biertimpel überzeugt mit ihrem Debütroman luftpolster, frisch erschienen im Leykam Verlag, und beweist, dass es möglich ist, über eindringlich Schweres zu schreiben, ohne zu beschweren. Und: Wie exquisit es sein kann, sich zuzugestehen, dass man im Laufe eines Menschenlebens Hilfe benötigt, und wie erleichternd es ist, darum zu bitten. Beides meistert die Schriftstellerin bravourös und mit charismatischer Sogwirkung.
Lena-Marie Biertimpel hat sich mit Anna Herzig auf ein sehr feines Gespräch eingelassen. Im Gepäck: Möwen, Raben und nachdenklich machende, raffiniert-gestrickte Sätze zum Leben im Allgemeinen.
Mit Lena-Marie Biertimpel zieht sich ein neuer, feiner Sound durch die österreichische Literaturlandschaft.
JA!
Liebe Lena-Marie, was bedeutet Hamburg für dich? Und was wird es niemals sein?
Hamburg ist so vieles gleichzeitig, dass ich diese Frage eigentlich gar nicht beantworten kann. In dem Wissen zu scheitern, lässt sich vielleicht sagen: Irgendwie sind da Möwen und Raben. Es gibt unterschiedliche Arten von Regen. Ich mag das Kaputtgegangene, Zigaretten rauchen in Bars (ohne Sperrstunde) und Sticker an Straßenlaternen. Es gibt zu viele Tourist*innen, der Elbstrand ist zu voll, immer, und die Regierung steht auf Wasserwerfer, Pfefferspray, Gefahrenzonen (…). Zumindest mit Wasser kennen „wir“ uns aus – Funktionskleidung, Regenschirme, Klobürste. Versteckt knutschen hinter einem Container. Gestreifte Prestigeprojekte und zu viele Konservative. Überall ist Musik und Mafia. Der Menschenhandel wird totgeschwiegen. Die Reeperbahn leuchtet und lässt Leid hier und an anderen Orten verschwimmen.
ein chaos aus schiefen tönen bricht aus. Mary pustet langsam in ein langes ding aus holz. Luzie haut auf ihre trommel. es wird immer lauter und lauter. meinen rasselnden gegenstand bewege ich nicht. ich stehe auf und verlasse den raum. ich rutsche an der wand herunter auf den boden und schnappe nach luft.
Hast du ein ausgewogenes, versöhnliches Verhältnis zum Schreibprozess? Was bringt dich ganz weit weg von dir und wie kannst du zurückgezerrt werden?
Ich würde mein Verhältnis zum Schreiben weder versöhnlich noch ausgewogen nennen. In erster Linie ist es harte Arbeit, oft im Kollektiv. Ich glaube nicht an einsame Nächte, Rotwein und göttliche Eingebungen.
Ich lerne einen Text beim Schreiben kennen. Selten weiß ich vorher, was ich aufschreiben werde. Wenn ich den Mut aufbringe, den Text machen zu lassen, bin ich beim Text, vielleicht auch bei mir. Obwohl, das kann ich nicht genau sagen – keine Ahnung was „bei mir sein“ eigentlich wirklich heißt.
aus den wunden werden narben, sage ich laut. ich sage das oft hintereinander, bis ich wieder einschlafe.
Weshalb „meine eine“ und „meine andere“?
Die Schwestern der Protagonistin, aber auch ihre Eltern bleiben namenlos und werden gleichzeitig von ihr benannt. Es ist ihre Mutter, ihr Vater, ihre eine und ihre andere.
Die Suche nach Benennungen, Ordnungssystemen und somit einer möglichen Bewusstwerdung sind immer wieder Thema.
Die Figuren sind verwoben, vereinnahmt voneinander. Da ist ein Wunsch nach Ausbruch, nachdem schon alles zusammengebrochen zu sein scheint. Wahrscheinlich ist es der Versuch der Protagonistin ein komplexes Konstrukt, in dem Ursachen und Wirkungen verschwimmen, zu entwirren.
Dahinter stehen vielleicht so große Fragen wie: Was bin ich und was die/der andere*? Wann spreche ich und wann spreche ich nur etwas nach? Wann sind wir ein „wir“ und wann vereinzelt? Was sind Schnittmengen und warum ist da ständig Schmerz? Und da stehen keine Antworten. Höchstens für zwei Sekunden.
viele menschen verstehen nicht, wie ich heile. es ist manchmal besser, nicht darüber zu sprechen. die menschen, die nicht verstehen, sagen ich lüge, sagt mein vater.
Denkst du, dass es eine Chance auf Heilung für generationsübergreifende Traumata gibt oder kommt immer wieder ein Stück hinzu, dass letztlich den Trauma-Kern unentdeckbar macht?
Vorweg: Aus einer literarischen Perspektive ist die Frage nach dem Warum, die Suche nach dem „Kern“ spannend und sehr reizvoll. Es öffnet die Möglichkeit von Gleichzeitigkeit und kann einfache Schwarz-Weiß-Erklärungen verhindern.
Aus einer alltäglichen, meiner nicht fachlich kompetenten Perspektive betrachtet, glaube ich, dass die Frage nach diesem „Kern“ eines Traumas in Bezug auf generationsübergreifende Traumata oft nicht hilfreich ist.
Erstens: Es ist wahrscheinlich wichtig zu betonen, dass nicht jedes Trauma generationsübergreifend ist. Auch wenn dieser Ansatz, nach Erklärungen zu suchen, natürlich verlockend ist.
Zweitens: Ich frage mich, was meint „Kern“? Ist diese Reduktion von Ereignissen überhaupt möglich? Und wenn ja, wie „ihn“ finden, in Anbetracht der Tatsache, dass viele Generationen im Davor nicht mehr leben?
Drittens: Wenn ein Trauma/Traumata über mehrere Generationen weitergegeben wird/werden, frage ich auch hier: Mündet die Aufarbeitung innerhalb eines therapeutischen Prozesses mit Fokus auf dem Warum überhaupt in „Frieden“ schließen? Oder wird die implizite Frage nach Schuld und Verantwortung in vorherige Generationen verschoben, ins unendliche weitergereicht? Was bleibt dann über vom eigenen Schmerz?
Ich glaube, dass eine solche „Warum-Betrachtung“ oft Mitleid, Schuldgefühle und das Bedürfnis zu verzeihen auslöst und somit die Wut, die Anklage, das Benennen von Verantwortung, z. B. bezogen auf die eigenen Eltern, verhindern kann.
Gleichzeitig ist es natürlich enorm wichtig, systematisch aufzuarbeiten, Familienkonstrukte und Vergangenes zu verstehen, zu erinnern. Vielleicht aber eher mit Fokus auf Veränderungsmöglichkeiten?
ich muss einkaufen gehen. ich bin eine schnecke. im supermarkt kaufen ich fertiggerichte. Ich habe luftpolster vorm duschen, das wasser macht meinen kreislauf kaputt. mir wird schlecht, wenn ich mich rieche. Seit dem rot gewordenen Handtuch spüre ich meinen körper gar nicht mehr.
Wo finde ich Luftpolster am ehesten?
Wenn die Luft stehen bleibt, Lichter grell verschwimmen, der Puls ausrastet, Schweißperlen, Zittern, innere Unruhe zur Bewegungslosigkeit führen, dann sind sie da, die Luftpolster. Dann ist die Luft in Plastikfolie eingesperrt und nur eine andere Person kann sie platzen lassen.
Wäre „Psyche“ ein idealer Name für die Protagonistin gewesen?
Ich musste googeln, wie Psyche offiziell definiert wird. Der Duden sagt unter 1.: Gesamtheit des menschlichen Fühlens, Empfindens und Denkens; Seele (1) Herkunft: griechisch psȳchḗ = Hauch, Atem; Seele; Gebrauch: bildungssprachlich, Fachsprache
Wenn Psyche immer noch für Hauch, Atmen, Seele, also irgendwie für Lebendigkeit stünde und ich behaupte, dem ist nicht so, wäre es möglicherweise eine Option für eine Namensgebung. Das Bezeichnete, also die Gesamtheit des menschlichen Fühlens, Empfindens und Denkens, passt aber nicht mehr mit dem Bezeichnendem, dem Wort, zusammen. Psyche wird in meiner Wahrnehmung vor allem mit Erkrankungen (leider oft Störungen genannt) verbunden. Es hat sich eine Vereinfachung, eine Pathologisierung eingeschlichen, die zusätzlich noch tabuisiert wird.
Affirmative Sätze wie: Du musst an die frische Luft! Du musst positiv denken! Stell dich nicht so an!, werden gesagt, ohne das Wissen, was eine depressive Episode wirklich bedeutet. Die Leichtigkeit ist dem Wort Psyche flöten gegangen. Wenn ich meine Protagonistin Psyche genannt hätte, hätte ich sie auf ihre Erkrankung reduziert. Sie ist so viel mehr als ihre Erkrankung. Sie ist eine Ninja (Kunoichi) in der Welt.
Danke an Anna Herzig und Lena-Marie Biertimpel!
- Lena-Marie Biertimpel: luftpolster. Graz/Wien: Leykam Verlag 2022. 192 Seiten, gebunden, 13 x 20,5 cm. 22 Euro
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