
„Adélaïde bereut nichts. Das ist ihr Prinzip.“ Doch nun, wo sie in ihrer neuen Wohnung steht, mischt sich Trübnis in den Blick nach vorn. Die Wände des nunmehr kleinen Apartments erscheinen sie zu erdrücken, die Duschkabine – ein Plastiksarg, in dem sie zusammensinkt. Und das, wo sie gerade noch ausgestreckt im neuen 1,20-Meter-Bett den Triumph geatmet hat:
Heute, genau in diesem Moment, hat sie das Gefühl, wieder die Kontrolle übernommen zu haben, die Kontrolle über ihr Leben, damit sie bei null anfangen kann, und zwar richtig.
So hoffnungsvoll, wie sie dem Joch der Ehe entkommen ist, so schnell tut sich das Loch der Einsamkeit auf. Und auch die Statistik verheißt nichts Gutes. Sie hat es gerade wieder in der Zeitung gelesen: „In Paris leben 13.700 mehr ledige Frauen als Männer, das ist ein Rekord.“
Adélaïde, die sich bis jetzt von einer Beziehung zur anderen hangelte, will nicht allein sein. Die schöne, selbstbewusste Pressefrau eines renommierten französischen Verlags weiß, wo man Männer trifft, wie man sich anzieht, was man beim Flirt in den Ring schmeißt. Das hier kann also nur eine Übergangsphase sein. Adélaïde wird eines Besseren belehrt. Nach erfolglosen Clubnächten kotzt sie Gin Tonic. Das große Los entpuppt sich als Schlappschwanz. Einmal wird sie hören: „Ich liebe dich, aber ich begehre dich nicht.“ Schnell steht fest: Adélaïde ist eine Frau, die sich auf dem absteigenden Ast befindet.
Dies ist die Geschichte eines zwischen zwei Seiten gepressten Mauerblümchens, das in Echtzeit in einem Herbarium vertrocknet. Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Die mit sechsundvierzig die Aura verschwinden sieht, die sie einst als junges Mädchen hatte.
Der gnadenlose Niedergang dieser modernen Madame Bovary, die in der Liebe und der Arbeit unter die Räder kommt, präsentiert sich in messerscharfer, pointierter Sprache. Verortet in einer Pariser Sex-and-the-City-Kulisse will man beim Schlittern in Erniedrigungen und Seelenabgründe nicht selten zugleich lachen und weinen. Und tatsächlich wäre es nur noch zum Haare raufen (weiß, unter einer Farbschicht), wären da nicht die Freundinnen zur gemeinsamen Katastrophenbewältigung.
So handelt der Roman Das synthetische Herz von Chloé Delaume letztlich doch von Liebe, zwischen Frauen, die in Freundschaft miteinander verbunden sind. Wie sich unerbittliche Machtverhältnisse kraft Schwesterlichkeit ertragen lassen, wird dabei so prägnant wie elegant und überzogen mit einer dicken Schicht schwarzem Humor zu Papier gebracht, dass bereits auf den ersten Seiten klar ist, warum Delaume für den schmalen Band 2020 den Prix Médicis bekommen hat – trotz bitterbös-heiterer Satire über den französischen Literaturbetrieb, die in die Erzählung eingewebt ist. Erstklassig auch die deutschsprachige Fassung von Claudia Steinitz. Extra-Bonus: Soundtrack und weiterführende Literatur werden in den Überschriften der einzelnen Kapitel mitgeliefert, die die Titel berühmter Romane oder großer Chansons tragen.
Das Buch ist nicht zuletzt auch für den Münchner Verlag Liebeskind ein Glücksgriff. Denn es kann kaum mehr als einen Anfang bedeuten. Chloé Delaume, Shootingstar der französischen Literaturszene, verfügt bereits heute über ein umfangreiches, mehrfach ausgezeichnetes Werk, dem sich zu widmen es höchst an der Zeit ist.
Dank an Lucia Schöllhuber
- Chloé Delaume: Das synthetische Herz. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. München: Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2022. 160 Seiten, gebunden. 20 Euro.
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