
Zu Wolfgang Schiffers neuem Lyrikband Dass die Erde einen Buckel werfe aus dem ELIF Verlag.
und
sind es überhaupt Gedichte
die ich hier schreibe
nur formlos wabernde Erinnerungen und dunkel wie Albträume bei Nacht?
Ich sehe mich im Spiegel
Zwischen-zwei-Stühlen-Sitzen – das ist ein Gefühl, das mich mein Leben lang begleitet. Als Mensch, Frau und Freundin. Als Schreibende, Denkende und Rezipierende.
Zeit meines Lebens fühlt es sich so an, als würde ich nicht nur zwischen zwei Stühlen sitzen, sondern vielmehr zwischen allen möglichen vorstellbaren Stühlen.
Aber wo sitzt man dann eigentlich?
Fakt ist, da bin ich zu Hause: in Bereichen, in denen ich täglich etwas Neues dazulerne und mich Dingen öffne, die ich – noch – nicht kenne. In Bereichen aber auch, in denen der Zeitgeist als Bewertungskriterium für Kunst keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle spielt. Das weithin verbreitete Argument für sogenannte gute, anspruchsvolle, hohe Kunst, die nur als solche bezeichnet werden könne, wenn sie progressiv sei und wesentlich neu, ist mir fremd: Ein Argument, das alle Kunst, die diese Forderung nicht oder nicht auf offensichtliche Art und Weise erfüllt, ins Aus katapultiert. Ich erlebe es als Bewertungskriterium zur Vergabe von Preisen und Stipendien, als Auswahlkriterium dafür, ob etwas in sogenannten qualitätsjournalistischen Feuilletons besprochen oder in nennenswerte Anthologien aufgenommen wird oder nicht. Und ich bin nicht einverstanden damit.
Geht es denn wirklich darum, auf Teufel komm raus etwas Neues zu schaffen – was ist übrigens neu? –, oder nicht vielmehr darum, eine eigentümliche, auch eigenwillige künstlerische Stimme zu finden?
es ist verwirrend
dass selbst die Träume ihre Verlässlichkeit verlieren
sich zunehmend weniger unterscheiden von den Wirren des Tags
Der Morgen war bleiern und bleich
Letzteres ist auf vollendete Art und Weise der Fall in dem schmalen Lyrikband Dass die Erde einen Buckel werfe von Wolfgang Schiffer, 2022 im ELIF Verlag erschienen. Ich gebe es offen zu: Ich bin voller Zuneigung und auch Bewunderung für das Buch und seinen Autor, zuallererst und grundlegend deswegen, weil auf jeder Seite, in jedem Gedicht, ja, bei jedem Wort fühlbar ist, dass hier ein Mensch und Künstler genau das gemacht und geschrieben hat, was er wirklich machen und schreiben wollte, unabhängig davon, was möglicherweise angesagt ist, hip, erfolgversprechend. Ein solcher Mut, eine solche Kompromisslosigkeit und Geradlinigkeit finden grundsätzlich meine Wertschätzung und Sympathie.
Der Schöpfer der Gedichte, 1946 in Nettetal geboren, ist nicht nur ein weithin bekannter Kenner, Übersetzer und Herausgeber insbesondere von isländischer Literatur, sondern er schreibt auch selbst sein Leben lang, u. a. Hörspiele für den Rundfunk, außerdem Bühnenstücke, Romane und Lyrik.
Nun ist aktuell die Gedichtsammlung Dass die Erde einen Buckel werfe erschienen, die man bedenkenlos als Alterswerk bezeichnen kann – ein Begriff, der, wenn wir nicht in einer jugendfixierten Gesellschaft leben würden, nicht den Hauch einer möglichen Abwertung in sich tragen würde. Die Bezeichnung meint schlicht, dass jemand aus der Perspektive eines Erinnernden, Zurückschauenden schreibt, mit der Aussicht eines Menschen, der mit einer gewissen, sich allmählich entziehenden Distanz auf das Leben und die Gesellschaft blickt und der sich in seinem Schreiben intensiv mit solchen Themen wie dem Älterwerden und dem Abschiednehmen, Kindheitserinnerungen und Mutter- und Vaterbildern auseinandersetzt. So sind in dem ästhetisch und hochwertig gestalteten Band – hervorhebenswert auch das Cover mit dem Bild eines fragmentierten Vogels, das von dem isländischen Dichter Ragnar Helgi Olafsson gestaltet wurde – Selbstreflexionen, Weltbeobachtungen und Momentaufnahmen nebeneinander gereiht sowie, und das ist eine besondere, sinnliche Idee, Wochenkarten von Speisefolgen aus der Kindheit und Jugend des Schriftstellers, die jeweils auf Hochdeutsch und in dem Dialekt seiner Muttersprache gestaltet sind, dem niederrheinischen oder auch niederfränkischen Platt.
darum bitte ich
wenn dies jemand liest bis hierher
nehmt mir die Bürde abschreibt ihr weiter (…)
haltet fest,
dass die Erde immer noch keinen Buckel wirft, um uns von sich zu werfen
obwohl sie schon brennt
Schwierigkeiten beim Schreiben von Gedichten
Zugleich erzählt der Band, dessen Titel dem die Sammlung beschließenden Gedicht „Schwierigkeiten beim Schreiben von Gedichten“ entnommen ist, auch von einem, der die Welt zu großen Teilen nicht – mehr – versteht, der über ihren gegenwärtigen Zustand trauert, auch seine Stimme leidenschaftlich erhebt, um auf Missstände und Schieflagen hinzuweisen. Man mag beim Lesen solcher Gedichte „Lamento und Eingeständnis“, „Ich sehe mich im Spiegel“ und dem soeben genannten von Pathos sprechen, ein Begriff, der gegenwärtig grundsätzlich unter einem Generalverdacht steht und weitläufig zum abwertenden Schlagwort verkommen ist. Wenn man „Pathos“ aber ursprünglich und im Sinne Aristoteles‘ als emotionalen Appell und Überzeugungsmittel der Rede versteht, so setzt Schiffer dieses gekonnt ein, und es lohnt sich allemal, sich von ihm bewegen zu lassen.
Sprachlich sind die Gedichte durchgängig klar, bewusst und rhythmisch verfasst mit einem ausgeprägten Gespür für den Atem von Sprache und die Wirkung auch von Pausen und Stille. Diejenigen Gedichte, in denen Schiffer fragile und gleichzeitig handfeste, genaue und trotzdem über das Erkennbare hinausführende Bilder findet für seine Eltern und seine Beziehung zu ihnen, sind die, die mich dabei besonders berührt haben, die nachhaltig in mir sind und klingen.
wie ich sie später
wie zu dem aus dem Nest gefallenen Vögelchen werden sah
das sie in ihren Händen geborgen hatte
und später
viel später
(…) sich in sich zusammenkrümmen
beinah ein Jahrhundert alt
wie ein verwelkendes Blatt
Befragt, was ich über meine Mutter schreiben wolle
Dank an Ulrike Schrimpf
- Wolfgang Schiffer: Dass die Erde einen Buckel werfe. Gedichte. Nettetal: ELIF Verlag 2022. 60 Seiten, Hardcover. 18,50 Euro.
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