Anna Herzig im Gespräch mit Carl-Christian Elze

Foto cocoparisienne

Dem Debütroman Freudenberg des sehr sympathischen Carl-Christian Elze, Autor von Gedichten, Prosa und Drehbüchern, nun eine kürzere oder längere Einführung zu widmen, fände die Interviewerin schade, weil: der „Freudenberg“ Potenzial hat, einen Platz im Roggen zu bekommen. Lernt ihn kennen (den „Freudenberg“) und lasst euch davon überraschen, wie wohlig sich ein Gespräch mit Carl-Christian Elze anfühlen kann. Fakt ist: In diesem Roman aus der Berliner edition Azur ist etwas ganz Wunderbares passiert.

Bitte!

Lieber Carl-Christian, woher kam „Freudenberg“ und warum ist er bei dir geblieben?

Freudenberg, die Hauptfigur des Romans, kam direkt aus dem Leben auf mich zu. Ein 17-jähriger Junge in einer BVJ-Klasse (Berufsvorbereitungsjahr), in der ich einmal vor 15 Jahren für einige Monate unterrichtet hatte. Ein Junge, der nie sprach, zumindest ich habe ihn nie reden hören, nicht ein Wort. Auch wenn ich ihn direkt ansprach, blieb er stumm. Er war in einer Art Bunker gefangen, konnte niemandem in die Augen sehen. Dieser Junge ließ mich nicht mehr los. Ich konnte ihn damals nicht aus seinem Bunker herausholen und vielleicht fing ich auch deshalb an, diesen Roman zu schreiben, um ihn zumindest als Romanfigur irgendwie öffnen und auch retten zu können am Ende.
Und noch ein wüster, vermessener Gedanke von damals, an den ich mich erinnere: Ich wollte mit Freudenberg einen Roman schreiben, der thematisch an Schuld und Sühne von Dostojewski anknüpft. Es gab zu dieser Zeit keinen Autor, der mich mehr beeindruckt hatte.
Die Rohfassung ist schnell und rauschhaft entstanden, vor wie gesagt ca. 15 Jahren. Zu dieser Zeit habe ich einen meiner engsten Freunde, den Leipziger Regisseur Philipp J. Neumann, kennengelernt. Wir sind beide Filmverrückte und wollten damals unbedingt aus Freudenberg einen Spielfilm machen. Letztlich hat uns keiner einfach so eine Million in die Hand gedrückt. Erst vor zwei Jahren nahm ich die Rohfassung von Freudenberg wieder in die Hand und war völlig überrascht, dass mich das Schicksal dieses 17-jährigen Jungen immer noch brennend interessierte. Als ob ich gar nicht älter geworden wäre. Dann begann die Überarbeitung.

Auch mit frischen Sachen fühlte sich Freudenberg nicht wie ein frischer Mensch, nur wie ein frischer Toter.

Ist ein Debütroman mehr Verantwortung für dich als Schriftsteller oder den Literaturbetrieb?

Darüber habe ich tatsächlich noch nie nachgedacht. Freudenberg ist zum Glück einfach passiert, wie Stoffwechsel, ganz organisch, wie ein Gedicht. Jetzt ist Freudenberg also ein Debütroman geworden. Die Bezeichnung gefällt mir ganz gut, weil Freudenberg ja auch ein Anfänger ist, in diesem Buch zum ersten Mal, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem eigenen, nicht fremdbestimmten Leben steht. Was die Verantwortung angeht: Ja, ich habe so etwas wie Verantwortung gefühlt während des Schreibens – für Freudenberg. Ich wollte, dass es ihm irgendwann besser geht. Aber vorher musste er durch die Hölle. Und welche Verantwortung hat der Literaturbetrieb jetzt für Freudenberg? Vielleicht ja die, ihn einfach kennenzulernen und ihn nicht stumm dasitzen zu lassen wie im wirklichen Leben.

Er konnte stolz auf seinen Körper sein, dachte Freudenberg plötzlich, es war ein Glücksfall, eindeutig ein Glücksfall, einen gleitenden Körper zu besitzen.

Was war für dich die Schwierigkeit dieses Romans und was war das Angenehme? Wo stößt man als Schreibender an seine Grenzen?

Das Angenehme und Aufregende ist immer der eigentliche primäre, tägliche Schreibprozess. Das Anwachsen eines Manuskripts. Das Schwierige ist für mich das, was danach kommt, nach dem Schreiben, das „Textverwalten“, Überarbeiten, Zweifeln. Ab hier beginnt das nicht angenehme analytische Lesen, das Besserbegreifenwollen des eigenen Textes, um ihn möglichst „logik- und wetterfest“ zu machen für den Lektor und für zukünftige Leser*innen. Aber was macht man, wenn der Text einem selbst stellenweise ein Rätsel bleibt, für das man keine vollständige Lösung hat. Es dauert manchmal eine kleine qualvolle Weile, bis man endlich begreift, dass das sogar ein Geschenk ist, ein Text, den man nicht vollständig erklären kann, der ein eigenes Leben führen will oder sogar viele Leben. So ging es mir auch mit Freudenberg. Ich werde im Kopf selbst nicht ganz fertig mit dem Text.
Wo stößt man als Schreibender an seine Grenzen, fragst du noch. Vielleicht dort, wo man in aller Klarheit begreift, dass man als Autor*in den eigenen Roman niemals zum ersten Mal lesen wird. Man kennt ihn in- und auswendig, zumindest was den Handlungsablauf betrifft, und kann sich in seinen düstersten, verunsicherndsten Momenten gar nicht mehr vorstellen, wie der Roman überhaupt wirkt, ob er spannend genug, berührend genug ist usw. Dann muss man den Text immer wieder laut lesen und lernen, jedem einzelnen Satz zu vertrauen. Es ist die Sprache, die zählt und alles in Spannung und Intensität verwandeln kann und nicht der sagenhafte Plot. Jeder Plot ist eine Eintagsfliege. 

Die weißgrauen Möwenleiber schaukelten und pickten unermüdlich in die Wellen. Auf einmal sah Freudenberg die Vögel in einem anderen Licht. Dieses Möwenschlaraffenland war auch ein Fischseelenerlösungsland.

Carl-Christian Elze (Foto Hannah Beck)

Dürfen Romanfiguren ihren Schöpfern entwachsen?

Ja. Zum Beispiel entwachsen im Sinne von Dinge tun, die gar nicht so geplant sind im Möchtegern-Plot. Auf irgendeine Weise scheine ich im Schreibprozess meine Figuren sogar dazu zu ermuntern, sich auch mal kurz aus dem Staub zu machen und den roten Faden hinter sich zu lassen. Freudenberg durfte sich einiges erlauben, was nicht zwischen uns abgesprochen war, das war völlig okay.
Was noch gut und willkommen ist: Das Entwachsen von Romanfiguren im Sinne von mich mal wieder in Ruhe zu lassen (nach den zähen Wochen des Lektorats), meinen Kopf nicht mehr ständig zu besetzen. Ich kann nun ehrlich gesagt auch nichts mehr für Freudenberg tun.

Dann lief er los. Er wollte endlich allein sein und rauchen, endlich tausend polnische Zigaretten rauchen und wie ein Schlot am Meer lang ziehen.

Was lernt man nicht am Deutschen Literaturinstitut Leipzig?

Ich habe zum Beispiel am DLL nicht gelernt, ausreichend auf meine innere Stimme und meine Atmung zu hören, ihnen zu vertrauen. Es gibt dort in kürzester Zeit vielleicht zu viele (natürlich auch gute, wertvolle) Textanregungen und Kritiken. Es ist alles gut gedacht, aber es ist auch eine gewaltige Überdosis an Autoritäten, gestandenen Autor*innen, Dozent*innen, die einem plötzlich die Texte zusammenstreichen, sie hochleben lassen oder zerfleddern. Das kann einen verunsichern, kann einem die Stimme verschlagen, manche hören mit dem Schreiben ganz auf. Ich selbst schaue rückblickend versöhnt aufs DLL, obwohl ich erst danach, erst als ich wieder raus war, angefangen habe, wirklich die Texte (vor allem Gedichte) zu schreiben, die zu mir passen, die in meiner Wahrnehmung authentisch sind und Intensität haben.
Kein DLL dieser Welt kann einen darin unterrichten, sich wirklich zu öffnen im Text, ein emotionales Risiko einzugehen, im Schreiben keine Angst mehr zu haben, persönlich zu werden. Diesen Sprung zum persönlichen Text, der einem selbst immer mehr bedeuten wird als jede gelungene und gelobte Schreibübung, diesen Sprung muss man immer allein schaffen.

Die von gelben Laternen angestrahlten Fassaden wirkten wie Patienten mit tropischen Krankheiten, fiebernd und verschwitzt. Sobald man an ihnen vorbeifuhr, schienen die Häuser zu schrumpfen und wegzusinken, von der Krankheit aufgefressen zu werden.

Bedeutet dir das Schreiben an sich immer gleich viel oder gleich wenig?

Seit ich mit 18 Jahren das regelmäßige Schreiben für mich entdeckt habe, bedeutet es mir immer gleich viel: Es ist für mich das bestmögliche Instrument, um klarer denken und fühlen zu können, um mich zu beruhigen, um meine größten Ängste zu bannen. Schreiben wird dann auch zum Gebet. Aber leider fehlt es an bleibender Beruhigung. Ich muss sie mit nahezu jedem Gedicht oder jedem Text neu erschreiben bzw. erbitten, erbeten. Ich bin dadurch auch in eine Abhängigkeit geraten, ich habe wenig anderes, was mich stabilisiert, das ist nicht immer gesund.
Es war seltsam: Ich war nicht zwischen Gedichtbänden aufgewachsen, doch produzierte ich plötzlich selbst diese kleinen, seltsamen Gebilde. Ganz unzweifelhaft brachte es Freude, ganz unzweifelhaft brachte es Trost, ganz unzweifelhaft Kraft. Dieser Dreiklang überzeugte mich damals als Gefühl. Im Grunde überzeugt er mich noch heute.

Darf man deine Kunst kritisieren und womit?

Natürlich, aber bitte mit ganz viel Liebe. Nein, mal im Ernst: Ich brauche unbedingt ehrliche Meinungen, auch Kritik, solange die Texte noch im Werden sind. Das ist immer die Chance, die Dinge zu überdenken, neu zu denken, etwas zu verändern, zu verbessern oder sich immer sicherer zu werden, dass man es genau so will, wie es dasteht. Wenn ein Lektor oder eine Lektorin gut zu einem passt, einen kritisiert, aber gleichzeitig auch stabilisiert auf hoher See, ist das immer ein Glücksfall.

Danke Anna Herzig und Carl-Christian Elze!

  • Carl-Christian Elze: Freudenberg. Roman. Berlin und Dresden: edition Azur im Verlag Voland & Quist 2022. 176 Seiten, Klappenbroschur. 20 Euro. E-Book 11,99 Euro.

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