
Das Patriarchat wanke. Wir befänden uns im Umbruch, erklärt Tanja Raich (Hg.) im Vorwort zu der Anthologie Das Paradies ist weiblich aus dem Zürcher Verlag Kein & Aber. Was strukturell gesetzt zu sein scheint, was gesellschaftlich als „Normalität“ gilt, sei keineswegs naturgemäß oder unveränderlich. Es sei höchste Zeit, über alternative Gesellschaftsformen nachzudenken. Zwanzig AutorInnen haben sich in ihren Textbeiträgen darauf eingelassen, aus verschiedensten Blickwinkeln der Frage nachzugehen: Wie könnte eine Welt aussehen, die von Frauen gestaltet und regiert wird? Die Anthologie hat auch mich zum Nachdenken gebracht und mit ihren Beiträgen auf unterschiedlichste Weise auf mich gewirkt.
Einiges gelernt habe ich aus den klugen Essays von Mithu Sanyal, Barbara Rieger und Emilia Roig, die sich theoretisch-wissenschaftlich der Fragestellung nähern: Was ist überhaupt ein Matriarchat? Wie haben sich Matriarchate historisch entwickelt, warum haben sie sich nicht durchsetzen können und welche anderen Gesellschaftsformen gibt es, welche wären denkbar? Die Biologin und Schriftstellerin Gertraud Klemm zeigt in einem hochinteressanten Beitrag, wie vielfältig die Formen des Zusammenlebens in der Tierwelt sind, und dass die Dominanz des Männchens keineswegs die Norm ist.
Einige der persönlicheren Beiträge, u. a. von Sophia Süßmilch und Tonio Schachinger, geben hoffnungsvolle, zärtliche, manche verbitterte und desillusionierte Einblicke in das Leben in privaten, familiären weiblichen Räumen. Natürlich handelt es sich um Einzelaufnahmen, ohne den Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder empirische Evidenz.
Manche Texte gehen einen Schritt weiter und entwickeln Utopien oder Dystopien aus einer persönlichen Perspektive heraus. In „Queertopia“ entwirft Linus Giese als Transmann eine Welt frei von Angst, Scham und Geschlechternormen, eine, die heute in dieser Form nicht existiert. Mich überzeugt Gieses Perspektive, in der das Patriarchat nicht mit Männern, Männlichkeit und Mannsein gleichzusetzen ist, sondern mit einer Lebensform. Es geht um Machtverhältnisse. Es gibt genug Cis-Männer, die keinen Einlass ins Patriarchat erhalten. Auf der anderen Seite gehören Frauen in Machtpositionen aus seiner Sicht ebenso dem Patriarchat an. Giese zitiert die Historikerin Riane Eisler, die als Alternative eine partnerschaftlich organisierte Gesellschaft vorschlägt – ein Gedanke, der in der Anthologie an verschiedenen Stellen aufgegriffen wird. Denn was Feminismus will, ist keine umgekehrte Dominanz, sondern die Abwesenheit von Dominanz, schreibt auch Emilia Roig. Emanzipation strebt nach Gleichstellung und Augenhöhe. Glauben wir denn wirklich, es verbessert die Welt, wenn wir ein partriarchalisches Hierarchiesystem abschaffen und mit einem matriarchalischen Hierarchiesystem ersetzen? Auch Mithu Sanyal bekräftigt, es ginge nicht um die Herrschaft von Frauen, sondern um das Abschaffen von Herrschaft. Frauen seien nicht die besseren oder moralischeren oder auch mütterlicheren Menschen, zum Glück nicht! Aber andere Gesellschaftsverhältnisse seien denkbar.
Kübra Gümüsay stellt in ihrer Kurzgeschichte „Die Frau auf dem Thron“ eine Schriftstellerin in den Mittelpunkt, die nicht gehört wird in einer Gesellschaft, deren Normen, Regeln, Sprache nicht für Frauen gemacht sind. Sie kämpft für Gerechtigkeit. Eines Tages jedoch sitzt sie selbst am Schalthebel der Macht. Nun haben alle Angst vor ihr. Sie genießt diese Angst, die Kraft ihrer Stimme, die Schlagkraft ihrer Worte, den Schmerz, den sie auslöst. Alles für die Gerechtigkeit. Auch das ist Herrschaft, nur umgekehrt.
Miku Sophie Kühmel wirft die Idee auf, Mutter- und Elternschaft in einem weiter gefassten Rahmen zu verstehen, als nur auf zwei Paar Füßen, von denen ein Paar weiter zur Arbeit geht und das andere endlose Runden um den Parkteich dreht. Auch Julia Korbiks Text entwirft eine Gesellschaft, indem Care-Arbeit im gemeinschaftlichen Zusammenleben verteilt wird, frei nach dem afrikanischen Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.
Wie genau diese Formen des Zusammenlebens ausgestaltet werden könnten, bleibt in den kurzen Beiträgen notgedrungen nur vage. Es geht darum, Grundsätzliches infrage zu stellen, Wunschvorstellungen in Worte zu fassen, neue Ideen auszutauschen und einen Dialog in Gang zu bringen, ohne sich anzuschreien, ohne Zorn und Wut.
Mareike Fallwickls Dystopie „Tamina Blue“ (erstmals erschienen im Juli 2021 in DAS GRAMM) ist ein Konterpunkt zum Rest des Buches. Missbrauchte, geschlagene, diskriminierte Frauen unterschiedlichster Herkunft und Orientierung schließen sich zusammen und erheben sich gegen ihre Peiniger. Diese werden willkürlich entlarvt, gebrandmarkt, öffentlich bloßgestellt, wenn nötig entführt und hingerichtet. In einer perfektionierten „Entsorgungsmaschinerie“ in geheimen unterirdischen Fabriken werden die Körper zerstückelt. Das Ziel ist es, die Welt von ihnen zu reinigen. Eine faschistoide, sadistische Gesellschaft, in der Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern werden. Das „schwache Geschlecht” lehnt sich gegen das „Patriarchat“ auf, aber ohne Differenzierung. „Die Sägen fragen nicht, wer ihr gewesen seid …”, heißt es. Sind somit alle Männer gemeint? Was ist mit den Männern, die selbst nicht Einlass ins Patriarchat erhalten haben? Und was ist mit den mächtigen Frauen und den Frauen, die sich nicht als Opfer fühlen?
Dystopien warnen vor Katastrophen, spielen mit unseren ärgsten Ängsten. „Tamina Blue“ ist ein sprachliches Feuerwerk, rhythmisch und furios, so poetisch wie blutrünstig. Aber in dieser Anthologie, die sonst eben nicht reine Literatur ist, sondern zu einem offenen, vorwärts schauenden Dialog einlädt, fällt der Beitrag aus dem Rahmen, weil er kein Gesprächsangebot macht.
Dank an Nikoletta Kiss
- Tanja Raich (Hg.): Das Paradies ist weiblich. 20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben. Zürich: Kein & Aber 2022. 256 Seiten, Hardcover. 24,70 Euro.
