Lüthi liest (im Februar): 100 Jahre Erika Burkart

8. Februar 2022. Schlachthaus Theater Bern. Auf der Bühne stehen fünf Schweizer Schriftstellerinnen: Tabea Steiner, Mariann Bühler, Zo Hug, Eva Seck und Saskia Winkelmann. Betitelt haben sie diesen Abend als „Beschwörung“. Denn mit Erika Burkart (1922–2010) soll eine Grosse der Schweizer Literatur gewürdigt werden. An diesem Tag wäre sie hundert Jahre alt geworden. Die fünf würdigen Burkart mit einer szenischen Lesung, in der in Zitaten eine schrittweise Annäherung an Burkart und ihr Werk versucht wird. Die Neuschöpfung „Simultanangst“ wird etwa immer wieder aufgerufen, losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext. Ich frage mich, was sich wohl dahinter verbirgt; eine Suche im Web spuckt den vollständigen Satz aus dem Band Grundwasserstrom (von der edition fünf 2013 neu aufgelegt und weiterhin lieferbar) von Burkart aus:

In den Wimpernkränzen schimmerten die weiten Augen, Rehkinderlichter, anzeigend eine Verletzbarkeit, die strahlt im Hunger nach Leben und scheut in der Simultanangst davor.

Aha, die Simultanangst im Augenpaar. Zauberhafte Wortfolgen ziehen sich durch den Abend, beinahe magisch der in den Worten von Erika Burkart gefundene Glanz. Und damit kommen wir nun endlich zum hauptsächlichen Teil dieser Ausgabe („Die Beschwörung“ tourt übrigens in den nächsten Monaten noch weiter durch die Schweiz, die Termine finden Sie hier).
Gleich fünf Veröffentlichungen sind geplant oder bereits erschienen zu diesem runden Geburtstag. Notabene in vier verschiedenen Verlagen. Entstanden sind die Bücher, sinnigerweise, unabhängig voneinander, erst mitten in der Arbeit haben die Verantwortlichen gemerkt, dass auch andernorts Erika Burkart beschworen respektive wieder gedruckt werden soll. Kurzentschlossen wurden Broschüren gestaltet, Plakate gefalzt und der Geburtstag zu einem würdigen Event erhoben. Und vier dieser fünf „Bücher“ möchte ich hier etwas genauer vorstellen, denn sie sind sehr unterschiedlich und ergänzen sich erstaunlich gut.

Aber zuerst kurz zu Erika Burkart: Erika Burkart ist eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der Schweiz. Während gut siebzig Jahren hat sie Gedichte geschrieben und veröffentlicht, gerade im Spätwerk aber auch vermehrt Prosaformen für sich entdeckt. Heute ist sie noch nicht ganz unbekannt, aber doch langsam wieder aus dem kollektiven Gedächtnis am Verschwinden. Im Limmat Verlag (bei dem 2013 bereits posthum Burkharts Werk Am Fenster, wo die Nacht einbricht veröffentlicht wurde) erscheinen zwei Bücher: die elektronische Gesamtausgabe ihrer Gedichte sowie eine gedruckte Auswahl dieser. Im Theologischen Verlag Zürich eine Anthologie mit Sekundärtexten und im Verlag vatter&vatter erscheint ein Wortfächer mit Auszügen aus Burkarts Werken. (Im efef Verlag wird ein Lesebuch zu Burkart erscheinen, dieses liegt aber noch nicht vor und ist deshalb auch nicht Teil der Kolumne.)

Ich bin nun so sehend geworden

Der Auswahlband Spiegelschrift bildet in diesen Bemühungen den (zumindest gedruckten) Mittelpunkt. Gut 250 Gedichte aus rund sechzig Jahren und neunzehn Bänden. Herausgegeben, bevorwortet und ausgewählt von Erika Burkarts Ehemann Ernst Halter. Der Fokus der Auswahl liegt dabei tendenziell auf den eher späteren Werken, durch die trotzdem vorhandene Auswahl aus früheren Werken lässt sich ihre Entwicklung aber auch in Spiegelschrift gut nachvollziehen.

Gefunden habe ich in diesen Gedichten eine Lyrikerin, die ihre Motive aus der Natur bezieht, oder wenn nicht aus dieser, dann aus der Mythologie. Das lässt sich schon allein an den Gedichttiteln ablesen: „Herbstlicher Gast“, „Bergwinternacht“, „Nachtvogel“, „Muschel“ oder „Zubereitung einer Mahlzeit“. Der zentrale und immer zumindest ideologische Ausgangspunkt jedes Gedichts ist dabei beständig: das Haus Kapf und dessen Garten in Althäusern im Kanton Argau. Burkart hat zeitlebens in diesem Haus gewohnt, unerstaunlicherweise erbaut sich ein Grossteil ihrer Gedichte aus dem im diesigen Garten angelegten Blätterwerk. Man kann es sich nun einfach machen, diesen Aspekt der Natur als zentral erachten und Erika Burkart zur spirituell-naturalistischen Naturlyrikerin ernennen (was gar manche zeitgenössische Literaturkritiker*innen getan haben). Das wäre etwas einfältig, wenn Sie mich fragen. Oder schlimmer noch: Es wäre ein diminutiver Zugang zu einem komplexen Werk, dem die Natur zwar als zentrales Instrumentarium dient, dieses aber in einen grösseren Kontext zu setzen weiss.

Der Stein des Sisyphos

Am Ende
hat er sich frei gemacht und verborgen,
Wurzeln gefasst, Moos angesetzt,
ruht,
entrollt der Mühsal
des gequälten Quälers,
ein Stein ganz allein,
ist keine Folter,
dient keinem Gott,
setzt sich ab vom Menschen,
ist er selbst, ein Ding
von Würde und Schönheit,
schwer zu finden, doch ansprechbar,
ein Stein ganz allein,
Denk-Mal und Siegel
im Wald in der letzten Zeit.

Sisyphos wälzt jetzt die Erde.

Man kommt natürlich nicht umhin, als diesen Band auch als eine Entwicklung zu lesen, als ein sich stetiges Neudenken und Umchangieren Burkarts im dichterischen Schaffensprozess. Spannend an dieser Entwicklung ist – wie Halter bereits im Vorwort festhält – die Umkehrung der Entwicklungsrichtung. Immer wie mehr findet die Dichterin ihre Form, ihre Stimme und traut sich immer wie weiter in die scheinbare Banalität der Naturbetrachtung vor. Da dürfen dann auch Bäume als „Freunde ohne Arg“ bezeichnet werden, weil Burkart das einfache Bild sofort kontrastiert und hier literaturgeschichtlich verortet („Rilkes Pappel, Hölderlins Eichen“).

Spiegelschrift spannt einen schönen, abwechslungsreichen Bogen über das lyrische Gesamtwerk Burkarts. Einziger Wermutstropfen ist die fehlende editorische Notiz. Was waren die Auswahlkriterien? Die bekannten Gedichte sind vertreten, die wichtigen auch, und auch im Abgleich mit der Gesamtausgabe erscheint die Auswahl stimmig, gänzlich bestimmen lassen sich die Kriterien aber nicht. Es wird wohl niemand Burkarts Werk so gut kennen wie Ernst Halter, aber ein paar Hinweise wären hier sicherlich nicht verkehrt gewesen, folgen doch die frühen Gedichte (mit zwei Ausnahmen) der Fassung letzter Hand, die die Korrekturen aufnimmt, die die Dichterin in ihren Leseausgaben hinterlassen hatte. Im Vorwort wird diese Überarbeitung sogar thematisiert, darauf hingewiesen, dass dieser Band diesen Überarbeitungen folgt, wird aber nicht. Gesamthaft gesehen, natürlich, ist dieser fehlende editorische Hinweis ein Tropfen auf den heissen Stein. Gerade in Anbetracht des nächsten Bandes wollte er mir aber nicht unerwähnt bleiben.

Ins Wellenmurmeln gleitet und zerrinnt

Die Gesamtausgabe von Burkarts Gedichten Schönheit und Schrecken (2022) ist ebenfalls im Limmat Verlag erschienen, dies aber ausschliesslich digital. Das hat ein Dafür und ein Dawider. Mein E-Book-Reader zeigt mir 4200 Seiten an, verständlich also, hier keine Druckausgabe zu machen. Dagegen spricht, denke ich mir, dass auch die Gesamtausgabe von Christine Lavants Werk 4000 Seiten hat (und von den Typen, die alle Gesamtausgaben bekommen haben, wollen wir gar nicht sprechen). Dafür spricht wiederum, dass hier äusserst sorgfältig gearbeitet wurde und das gleiche Gedicht im Extremfall in bis zu fünf Versionen wiedergegeben wird, was in gedruckter Form natürlich unsinnig wäre. Dagegen, dass die umfangreichen Prosawerke ja noch fehlen. Ein gutschweizerischer Kompromiss ist man versucht zu denken, aber gut, stellen wir diese Überlegungen beiseite.

Burkart als Dichterin in ihrer ganzen Grösse zu fassen, also so wirklich zu fassen, das kann man erst mit der Gesamtausgabe. In Schönheit und Schrecken werden die intensiven Überarbeitungsprozesse (auch hier wieder herausgegeben und mit Einleitungen versehen und aufbereitet von Ernst Halter) der frühen Gedichte, dieses Sich-finden als Dichterin besonders plastisch spürbar. Halter hat einerseits eine Fassung letzter Hand angefertigt, die den Überarbeitungswünschen der Dichterin folgt, die Überarbeitungen selbst sind schrittweise festgehalten und mit Einfügungen, Durchstreichungen und Kommentaren versehen. Dass auch die ursprünglich gedruckten Fassungen vorhanden sind, versteht sich schon fast von selbst. Später nehmen die Überarbeitungen ab, und es gibt nur noch eine zweite, bereinigte Fassung, in der die orthografischen Gegebenheiten angeglichen werden. Wenn man so will, stösst man da an den Punkt, wo sich Ausdruck und Sprache von Burkart endgültig im Einklang befinden.

Die editorische Arbeit von Ernst Halter ist nicht hoch genug einzuschätzen, vor grossangelegten Editionsprojekten mit staatlicher Förderung muss sich diese Ausgabe nicht verstecken. In diesem Sinne möchte ich mein (neben dem oben bereits zitierten Sisyphos-Gedicht) liebstes Gedicht von Erika Burkart, das sich nur in dieser Ausgabe findet, hier gewissermassen als Plädoyer für die Gesamtausgabe stehen lassen:

Hades. 21 Zeilen

Gehen, jetzt, wenn die junge Sonne
in die bebend erschlossenen Kelche zündet?
Gehen wohin:
zu den Asphodelen, die scheinen
in der ewigen Dämmerung
mit unübersehbarem Eigenlicht?
Es ist eine Verheißung aus mythischer Zeit,
dass auch unten,
unsern Gestirnen entrückt,
Blumen blühen;
lilienverwandte, lichtabgewandte, geleitend
Abgeschiedene beidseits des Pfades,
den sie Totenspur nennen.
Hier kam, Wildgras um Knöchel und Knie,
eine Seele vorbei, durchsichtig, stumm, unbeschuht,
die Augen blindoffen auf Unsichtbares,
Spiegel, die spiegeln das blanke,
das trübe Nichts. Schau nicht hinein:
Aus der dämmernden Leere
tauchte fernher
dein eignes Gesicht.

9.2 2008 in Heft 23 der letzten Aufzeichnungen

sozusagen im Gegenzauber, Worte

Die von Ursina Sommer herausgegebene Anthologie Im Gegenzauber (2022) erlaubt einen vielgestaltigen Blick auf das Werk Erika Burkarts und die darin zum Ausdruck gebrachte Spiritualität. Grob lassen sich die Beiträge in drei Stränge aufteilen. Solche, die die Spiritualität (und Religiosität) der Autorin zu ergründen versuchen, solche, die sich Burkarts Beziehung zur Natur widmen, und solche, die Begegnungen mit der Autorin schildern, sei dies auf der persönlichen oder rein textlichen Ebene. Was alle Beiträge eint, ist der Versuch, über das Werk dem Menschen Erika Burkart näherzukommen. Das Haus Kapf taucht in diesen Annäherungen ebenso oft auf, wie auch Ernst Halter erwähnt wird. Spätestens nach dem Lesen der Aufsätze erweisen sie sich als konstituierende Elemente in Burkarts Leben und damit auch in ihrem Schreiben.

Eindrücklich gelingt ein solcher Einblick etwa Andreas Mauz, der sich dem Gedicht „Familienballade“ widmet und dabei in einer literaturwissenschaftlichen Analyse die Position des lyrischen Ichs innerhalb der Familie zu lokalisieren sucht. Claudia Storz hingegen schreibt sehr persönlich von ihren eigenen Erinnerungen an Erika Burkart, vermengt diese aber auch mit den Erinnerungen von Hermann Burger, den auch Fridolin Stähli in seinem Beitrag wieder aufgreift. Auch Markus Hediger vermischt persönliche Erinnerungen mit einer Textanalyse, wandert vom Gedicht „Blau“ weiter zu seiner eigenen Lizenziatsarbeit und der Freundschaft, die ihn mit dem Ehepaar Burkart/Halter verbindet. Joanna Nowotny liefert wiederum die spannende Verknüpfung zwischen Leben und Werk Burkarts, die, obwohl viele ihrer Gedichte, Aufzeichnungen und Romane, stark autobiografisch geprägt sind, nie eine Autobiografie verfasst hat.

Im Gegenzauber nimmt einen spannenden Gegenpol zu den rein textlichen Begegnungen mit Erika Burkart ein. Die Artikel driften mit einer Ausnahme (ob man das einem Literaturprofessor vorwerfen kann?) nie in einen literaturwissenschaftlichen Duktus ab, bieten aber trotzdem zielgerichtete Zugänge zum Werk und auch schöne, genaue Lesarten von Burkarts Texten. Denn, und das ist das grösste Verdienst der Anthologie, der Band verfällt nie dem Fehler, Erika Burkart als Person ins alleinige Zentrum zu rücken, der Blick gilt jederzeit in der Hauptsache ihren Worten.

mit perlgrauer Holzasche ist die Straße bestreut

Am zugänglichsten Eintauchen in die Wortgewalt Erika Burkarts, und damit am nächsten schnell an den Zauber ihrer Worte kommen, kann man mit dem kleinsten der frisch erschienenen Bücher (obwohl es streng genommen gar kein Buch ist). Der wortfächer Fragmente eines Lebens zu Erika Burkart des Verlags vatter&vatter versammelt Textstellen aus ihrem ganzen Schaffen. Zusammengestellt und herausgegeben hat ihn Tabea Steiner, Sie erinnern sich, die Tabea Steiner, die mit vier weiteren Schriftstellerinnen Erika Burkart beschworen hat. Die Textstellen, die Steiner für den Fächer ausgewählt hat, sind aus ihren Ursprungskontexten entrissen und stammen auffallend oft aus Burkarts Prosawerken. Was weniger damit zusammenhängt, dass es keine zitierfähigen Gedichte Burkarts gegeben hätte, sondern viel eher damit, dass Burkart gar nicht anders konnte, als verknappend und verdichtend zu schreiben, ganz unabhängig von der schlussendlichen Form. Oder, wie Tabea Steiner treffend formuliert, war Burkarts Schreiben in jeder Form „schonungslos pointiert”. Damit eröffnet der wortfächer auch wieder einen neuen Zugang zu dieser Schriftstellerin, die zwar für ihre Lyrik bekannt ist, bei Weitem aber nicht nur Gedichte geschrieben hat.

Genauso wie im wortfächer bin ich den Texten Burkarts an diesem 8. Februar begegnet, losgelöst, im Raum sich entfaltend. Und es zeigt sich dabei auch, was ich nach der Lektüre sehr vieler Gedichte, einiger Sekundärtexte und Zitate über Erika Burkart gelernt habe: Sie benötigt keine Weibel, keine Advokaten, die für sie das Wort ergreifen, die Argumente dafür hat sie während rund siebzig Jahren mit ihren Texten schon ganz allein erschaffen. Umso schöner, können ihre Gedichte nun wieder in gebührendem Rahmen erworben und genossen werden. Fehlen nur noch die Prosabände. Vielleicht zum 101. Geburtstag?

Großer Dank an Nick Lüthi (Fotos Nick Lüthi)

  • Erika Burkart: Spiegelschrift. Gedichte – Die grosse Auswahl. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Ernst Halter. Zürich: Limmatverlag 2022. 336 Seiten. 39 Euro
  • Erika Burkart: Schönheit und Schrecken. Das lyrische Gesamtwerk. Herausgegeben von Ernst Halter. Zürich: Limmatverlag 2022. 4200 Seiten. Exklusiv als E-Book. 78 Euro
  • Ursina Sommer (Hg.): Im Gegenzauber. Spiritualität und Dichtung im Werk Erika Burkarts (1922–2010). Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 208 Seiten. 26,90 Euro.
  • Erika Burkart: Fragmente eines Lebens. wortfächer. Herausgegeben von Tabea Steiner. Bern: vatter&vatter 2022. 14 Euro

Hinterlasse einen Kommentar