Marie-Hélène Lafon: Geschichte des Sohnes (Rotpunktverlag)

Foto S. Hermann & F. Richter

Dramaturgisch ist es sicher nicht günstig, das überschwängliche Lob an den Beginn einer Rezension zu stellen, und dennoch: Geschichte des Sohnes der französischen Autorin Marie-Hélène Lafon ist ein großes Kunstwerk, das zu Recht den Prix Renaudot (2020) erhielt.

Die Kapitel dieses Romans erinnern an tableaux vivants, bei denen Menschen bedeutende Werke der Malerei möglichst originalgetreu nachstellen. Jedes einzelne Kapitel könnte ebenso gut eine meisterhaft erzählte Kurzgeschichte sein, und dennoch ist alles auf eine wundersame Art verwoben, wie die Bindungen innerhalb der Familien, von denen hier erzählt wird.

Dieser Roman ist also viel weniger fragmenthaft, als er beim Lesen der ersten Kapitel erscheinen mag. Und doch ist das Unvollständige, das Lücken und Leerstellen Hinterlassende ein zentrales Thema in diesem Buch: Denn die erwachsene Krankenschwester Gabrielle wird schwanger, nachdem sie eine Affäre mit einem um sechzehn Jahre jüngeren Schüler hat. Dem so gezeugten Sohn wird sie nie von seinem Vater erzählen. Es ist eine Geschichte, die Fragen nach Ursprung und Identität stellt, von Schein und Sein erzählt, von gewöhnlichem Glück und schwerwiegendem Schweigen.

Mit den Mitteln einer präzisen, nie pathetischen Sprache zeichnet die Autorin in zwölf Kapiteln zwölf vor Lebendigkeit pulsierende Bilder:

Pauls Hände wirken Wunder. Gabrielle kann nicht genug bekommen von Pauls langen Händen. Sie weiß von Anfang an, dass er gehen wird, dass er sie verlassen wird, weil sie sechzehn Jahre älter ist als er und sie ihm alles über die Frauen beigebracht hat; das kann ein Mann wie er keiner Frau verzeihen. (…) es wird sie zerreißen, wie noch nie etwas sie zerrissen hat, das ist der Preis, der Preis des Rauschs.

Die Szenen sind ineinander verschachtelt wie bei einem Puzzle. Erst nach und nach erschließt sich, wie die einzelnen Teile zusammenpassen. Die Autorin greift in jedem Kapitel einen jeweils zentralen Moment im Leben einer wichtigen Figur auf und geht dabei einer zentralen Frage nach: Wie viele Generationen werden nötig sein, um jene Lücke zu schließen, die das Schweigen hinterlässt? Nach den ersten chronologischen Kapiteln ab 1908 folgt die erste von drei Rückblenden, bis die erzählte Handlung schließlich im zwölften Kapitel und hundert Jahre später endet.

Wieder spricht zuletzt ein Protagonist, dessen Name mit einem A beginnt, so wie schon im ersten Kapitel. Und obwohl sich in diesem letzten Kapitel ein Kreis schließt, ist es so, als wollte die Autorin die Geschichte nicht von A bis Z ausbuchstabieren, sondern den immerwährenden Neuanfang durch die Namenswahl der männlichen Protagonisten betonen. So endet das Buch denn auch mit einem Bewusstseinsstrom Antoines, der Sohn des (mutmaßlich titelgebenden) Sohns André ist:

Er wird seinem Vater bestätigen, was er schon wusste, dass Chanterelle ein hoch gelegenes mächtiges Reich ist, wo die Bäume dicht belaubt sind und die Sicht weit; er wird ihm auch sagen können, dass man in Chanterelle von jetzt an weiß, dass André Léoty, Sohn von Paul Lachalme und Gabrielle Léoty, auf der Welt war und dass man sich an ihn erinnern wird.

Wer sich aufmerksam lesend durch das von Marie-Hélène Lafon so klug konstruierte Gedankengebäude bewegt, taucht ein in poetische Sprachgebilde, aus denen Szenen voller Kraft entstehen.
Dass dieses Werk mit seiner präzisen Sprache, den prägnanten Charakterisierungen und den geschickten Zeitsprüngen und Perspektivenwechsel jetzt in einer so überzeugenden deutschen Fassung vorliegt, ist dem Schweizer Rotpunktverlag und der Übersetzerin Andrea Spingler zu verdanken, die im Vorjahr den Paul-Celan-Preis für ihr umfangreiches Gesamtwerk erhielt.

Dank an Beate Kniescheck

  • Marie-Hélène Lafon: Geschichte des Sohnes. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Roman. Zürich: Rotpunktverlag 2022. 160 Seiten, Hardcover. 22 Euro.

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