Mathias Müller: Birnengasse (Sonderzahl Verlag)

Als ob das Auge wachsen würde (Notizen zu Mathias Müllers Birnengasse)

„Zitate sind die widerhallenden Handlungen“, so lesen wir gleich auf der ersten Seite von Mathias Müllers Birnengasse (erschienen 2021 im Wiener Verlag Sonderzahl), „die niemals verstummen oder zurückgenommen werden können. Sie sind Korrespondenzen, Handlungsanweisungen, Kommentare, Danksagungen, Liebeserklärungen, Wegweiser.“ Hinter dem unscheinbaren Titel Birnengasse verbirgt sich eine Reise, ein Verweilen in den Kilometern zwischen Aufbruch und Ankommen. Sicher geht es dem Autor auch um ein kunstvolles Spielen mit Zitaten, noch spannender aber ist das neue Material, das dabei entsteht: Sätze, die selbst wiederum zitiert werden wollen.

Birnengasse ist kein Buch, das sich leicht und in ein paar wenigen Worten zusammenfassen lässt. Ich schlage deshalb vor, die Texte als Teile eines Stadtplans zu lesen. Sehenswürdigkeiten gibt es jedenfalls mehr als genug zu entdecken. Gleichzeitig kann man sich auch sehr leicht verlaufen und woanders landen als ursprünglich geplant (was eindeutig eine Qualität der darin versammelten Texte ist). „Straße und Sprache, das gehört ja irgendwie zusammen“, davon ausgehend sind vielleicht auch Sprechen und Verlaufen eng miteinander verwandt. Die Stadt als „Ort der aufgerauten Oberflächen“, ein Straßenname führt zum nächsten, alles scheint verbunden und verwoben zu sein: „Der Stoffwechsel einer Stadt vollzieht sich auf der Haut.“ Wo Haut ist, da sind auch Risse, und „wo Risse möglich waren, da fand auch eine Reise statt“.

Im Mittelpunkt der Texte: ein unbestimmtes, ein vages Wir. Am Anfang steht – wie passend – die Überquerung einer Straße, „wie aus Versehen, aber unwiderruflich“, jetzt gibt es kein Zurück mehr, die Reise beginnt. Sie führt hinein in die Risse der Sprache. „Langsam kannten wir die Straßen. Wir erkannten ihre Erhebungen und Sprünge und wir wussten von den Stellen, an denen der Boden unseren Füßen nachgeben und wir in eine Sprachlosigkeit fallen konnten.“ Problemlos könnte man in dieser Passage „Straßen“ mit „Sprache“ ersetzen oder „Sprachlosigkeit“ mit „Heimatlosigkeit“.

Zwischen die einzelnen Texte schiebt sich auch immer wieder etwas Bedrohliches, und die Gegenden, in die wir mitgenommen werden, sind auffällig menschenleer. „Nur mit Mühe wurde die Welt nicht in Stücke gerissen“ – ich stelle mir eine Stadtlandschaft vor, durch die sich nur noch Kräne und Vögel bewegen. Ein Hausdach setzt sich „in den Federn der Flügel eines Vogels fort“ und beides kann „nicht begriffen, nur weitergegeben werden“, heißt es an einer Stelle im Text und hier blitzt Müllers Poetologie durch: Dass es in Birnengasse eben nicht darum geht, etwas begreiflich zu machen, sondern um das Weitergeben einer bestimmten Sichtweise. Dabei fällt der Blick immer wieder auf Gegenstände und Gefundenes, die Stadt als überdimensionales Fundbüro: „Es gab keine mehr oder weniger wertvollen Dinge.“

Auch diese Poetologie des Gleichwertigen spiegelt sich in den Texten wider. Hierarchische Strukturen werden abgelehnt, zum Teil zersetzt, der große Unterschied zwischen Anordnung und Ordnung spürbar, wie wenig die beiden Begriffe bei genauerer Betrachtung miteinander zu tun haben. Womit wir wiederum mitten in der Sprache sind und den unsichtbaren Ordnungssystemen, denen wir beim Sprechen und Schreiben ausgesetzt sind. In Birnengasse haben die Wörter „Sprünge und Flügel“, sind einerseits Dinge, die wir einmal zu oft auf den Boden geworfen haben, andererseits aber auch lebendige und mit Zugvogelinstinkt ausgestattete Organismen. Ihre Gemeinsamkeit ist ihre Zerbrechlichkeit: „Hände und Vögel sind verwandt. Beide fallen, verletzen sich, verlieren etwas oder bringen alles ordentlich durcheinander. Im Handumdrehen ist etwas aufgehoben oder zerbrochen und nichts kann zurückgenommen werden.“

In Mathias Müllers Birnengasse gibt es nur Gegenden, vermutlich ist die gesamte Birnengasse als geografischer Ort eine Gegend. Die im Buch eingebetteten Zitate von Autorinnen wie Inger Christensen, Ilse Aichinger oder Robert Walser sind eine nette Ergänzung, jedoch funktionieren die Texte genauso gut ohne diese Bezugspunkte. Was bleibt, ist ein Buch, das man nicht zwingend von vorne nach hinten lesen muss, sind Texte, die auch ein zufälliges Aufblättern und Draufloslesen ermöglichen und belohnen, und eine Einladung, von einer Seite zur nächsten zu flanieren. Ich weiß, dass ich das Buch auch in Zukunft wieder gerne in die Hand nehmen werde, um mir anzuschauen, welche Wege ich genommen habe, welche Abkürzungen. Ich muss nur den zahlreichen unterstrichenen Sätzen folgen.

Dank an Martin Peichl (Fotos © Martin Peichl)

  • Mathias Müller: Birnengasse. Wien: Sonderzahl 2021. 44 Seiten,14 x 22 cm. 20 Euro

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