
Habt ihr von der tschechischen Autorin Lucie Faulerová gehört? Ein paar Hände in den hinteren Reihen? Dank des „schönen, klugen, unwiderstehlichen“ Erlanger homunculus verlags wird sich das nun garantiert ändern. Die 31-jährige Autorin hat mit ihrem Sound, so frisch und unerhört direkt, dunkel und spielerisch, in der tschechischen Literaturszene ordentlich Aufsehen erregt. Ihr Debütroman Staubfänger war 2017 nominiert für den bedeutendsten Literaturpreis des Landes, den Magnesia Litera.
Staubfänger ist ein besonderer Roman, abgründig, zynisch und voller Verletzlichkeit. Es geht um tief vergrabene, bewusstseinsverändernde Traumata, die sich den Weg an die Oberfläche bahnen.
Das war der schlimmste Moment meines Lebens, bis auf all die anderen.
Mit diesem Satz beginnt das Buch. Die Ich-Erzählerin Anna ist schlimmste Momente in ihrem Leben gewohnt, sie stirbt ständig Tausend Tode, wird überfahren, erstickt, erstochen. Sterben wäre besser, glaubt sie, als ihr trister Call-Center-Alltag, indem sie Tag für Tag ihre Achtstunden-Schicht fristet, ein herziges Gesicht macht und allen vorgaukelt, sie sei normal. Am Abend hockt Anna allein in ihrer verwahrlosten Wohnung mit kaputtem Klo, Kitsch und Krempel, ihren obsessiv gesammelten Staubfängern, so nutzlos wie ihre Existenz. Ja, vielleicht wäre es besser zu sterben, glaubt sie, wenn es denn einer bemerken würde, doch niemand bleibt stehen, keiner würde über ihren Tod sprechen. So lebt Anna vor sich hin, emotionale Bindungen meidend, ohne Glauben an die Liebe.
Mit Jakub zusammen zu sein, das war, als würde ich den Kopf aus dem Fenster eines fahrenden Zuges stecken. So viel Luft, dass man keine Luft mehr bekommt, so viel Luft, dass man gar nicht mehr atmen kann. So erlebe ich das Glück.
Besuche bei ihrer Schwester sind für Anna eine Qual. Bei Dana ist alles sauber und gepflegt in der blitzblanken Plattenbauwohnung. Zynisch zieht Anna über das Leben ihrer Schwester her, die nur verzweifelt etwas Glück zu finden versucht. Anna zerpflückt gnadenlos alles, was aus Plastik oder Phrase ist oder nur menschlich erscheint. Manchmal wird sie gar poetisch, doch jeder dieser Sätze birgt einen Kontrapunkt. Blitzt mal Zärtlichkeit in ihnen auf, folgt darauf die treffsichere Ohrfeige: „Gestatten, ich muss kotzen.“
Ein Erzähler fährt Anna hin und wieder ins Wort, macht sich lustig, widerlegt sie schonungslos. Oder ist es Anna, die sich derart mitteilen will und nach Wahrheit gräbt? Bald wird jedenfalls klar, der schwarze Humor ist Fassade und die bröckelt gewaltig, modrige Nässe zieht sich an ihr entlang in hässlichen Flecken.
Anna betäubt sich in erbärmlichen Bars mit erbärmlichen Gestalten, einen nimmt sie mit nach Hause. Der brutale Sex im Vorzimmer wird zum Trigger: Die Abwärtsspirale setzt sich in Gang, Angstzustände häufen sich, Wände fallen um, der Kopf zerbröselt, der Job ist weg. Traumatische Bilder aus der Kindheit begraben unter der dicken Staubschicht ihres Bewusstseins schwemmen langsam an die Oberfläche.
Ein Schattenspiel: großer Schatten gegen kleinen, durch die Kinderzimmertür mit Glaseinsatz, in den das Muster eines vierblättrigen Kleeblatts eingeschliffen ist. Mit riesigen allmächtigen Händen würgt der größere Schatten den winzigen Hals des kleineren. Huschsch.
Eine Wucht ist dieser Roman. Ich las ihn in einem Atemzug. In seiner Intensität und sprachlichen Unverblümtheit finde ich Parallelen zu Eileen (2017), dem grandiosen Roman von Ottessa Moshfegh. Wir haben es mit sich ebenbürtigen Antiheldinnen zu tun, psychisch schwer angeschlagen, exzentrisch, grausam und doch scheint eine Verletzlichkeit durch, eine Umarmung und sie zerbrechen. Faulervorá wie Moshfegh verstehen es, eine Spannung wie in einem Psychothriller aufzubauen. Es hängt eine böse Ahnung in der Luft. Man spürt, es kommt noch was.
Und ich hoffe, wir können bald auch den 2020 erschienenen und 2021 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichneten neuen Roman der Autorin Smrtholka („Todesmädchen“) in deutscher Sprache lesen.
Dank an Nikoletta Kiss
- Lucie Faulerová: Staubfänger. Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck. Erlangen: Homunculus Verlag 2021. 224 Seiten, Hardcover. 22 Euro