Lukas Holliger: Unruhen (Edition Meerauge)

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Unruhen des vielseitigen schweizerisch-österreichischen Autors Lukas Holliger umfasst sechzehn Erzählungen, die sich mit bewegten und bewegenden, mit sich verschiebenden und verschobenen, mit wackligen und tödlichen Zuständen befassen. Erschienen ist der Band in der wunderbaren Edition Meerauge.
Schon der Titel weist auf den andauernden Ausnahmezustand hin: das Wort „Unruhe“ existiert grammatikalisch nicht im Plural. Lukas Holliger spinnt aus dem Gedanken der grundsätzlichen Unsicherheit und dem Wunsch, diese aufzuheben, spannungsgeladene Geschichten, die verwundern.

Die Erzählungen beginnen in der Realität. Ein Mann, der aus seinem Bürofenster auf den davor liegenden Platz schaut. Und dort seinen Bruder stehen sieht. Eine Frau, die in Wien ankommt und sich wie ein Nichts fühlt. Zwei Brüder, der eine kocht leidenschaftlich, der andere isst gerne und vergisst ständig, dass er eigentlich Vegetarier ist. Ein Student, der die Miete für seine WG nicht zahlen kann, zurück zu seinen Eltern zieht und überlegt, wie er sein Leben in die richtige Spur bringen soll. Ein Mann, der in einem Konzertsaal sitzt und heftig von der Musik ergriffen wird.

Letzterer ist einer der Protagonisten der Erzählung „Der Ameisenlöwe“, einer der beeindruckendsten und kunstvollsten des Buches. Der oben erwähnte Mann im Konzertsaal ist Kipper. Er empfindet die Musik als „Kriegssinfonie“, fühlt den Angriff körperlich, der ihn umgebende Raum wird zum „Kriegsschauplatz“. Er lebt in einem abgelegenen Haus, das einst als Gedenkstätte für den Ersten Weltkrieg gedacht war, aber nie als solche eingerichtet wurde. Seine Vermieterin zog als Fünfjährige mit ihrer Mutter in dieses Haus. Eine weitere Person ist ein alter Mann, der unversehens auftaucht, der Vermieterin quasi vor die Füße kippt und eine Verbindung in die Vergangenheit ist. Im Verlauf der Geschichte spielen eine alte Uniform, ein im Wald gefundener toter Soldat, die lebenslange Sehnsucht nach einem nie kennengelernten Vater und der Wunsch, der Einsamkeit zu entfliehen, eine Rolle.
Kipper trägt seinen Namen nicht zufällig, er kippt mehr und mehr aus der Zeit, aus der Gegenwart, in eine fantasierte Vergangenheit. Er verlässt das Haus im Wald und wandert Richtung Stadt, wie einst die Menschen auf der Suche nach Freiheit.

Die Stadt erwartete Kipper mit ausgebreiteten Armen.
Er zückte seine Trommelschläger und beschleunigte.

Alle Figuren sind völlig haltlos. Sie schwanken zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Jetzt und Damals, sie verlieren sich in Fantasien. Sie schleichen umher, versuchen Boden unter die Füße zu bekommen, rutschen aber ganz konkret auf regennassem Grund aus.

Bis ins kleinste Detail verwebt Lukas Holliger die physische mit der psychischen Ebene. Die Umgebung ist ein Abbild der Seelen seiner Figuren, die einfach nicht ans Licht kommen. Die langsame Verschiebung der Zeit, das Eintauchen in Schleifen, der Versuch zu bewahren und gleichzeitig der Wunsch zu verändern, verweben sich unauflöslich mit- und ineinander.
In dieser Art sind auch die anderen Erzählungen konstruiert. Die Figuren kippen zunehmend aus ihren grundsätzlich fragilen Leben heraus. Protagonisten werden zu untergeordneten Figuren, weil sich aus einer zunächst als Nebenfigur angelegten Person eine tragende Rolle entwickelt, vielmehr eine Person, die einen anderen Aspekt der Unsicherheit verkörpert.

So auch in der Geschichte „Neuer Firmensitz“, in der sich die Führer einer Firma abwechseln. Zwei konkurrierende Brüder, die mal oben, mal unten auf der Leiter des Lebens und der Karriere stehen. In diese Handlung hinein entwickelt sich die Sekretärin als Figur, die zwischen Hinnehmen und Veränderung schwankt und deren einzige Hoffnung am Ende auf dem Beginn ihres „logischen Lebens“ ruht.
Gibt es eine Logik im Leben? Diese Frage beantwortet der Autor wohlweislich nicht, das überlässt er seinen Leser*innen.

Mit seinen brillanten Geschichten wirft Lukas Holliger Fragen auf, verschränkt Realität und Fantasie, begibt sich hinaus ins Universum, schafft Helden, Gestrauchelte und solche, die sich wieder aufrichten.
Schwingend, luzid und wendungsreich sind die Geschichten. Die letzte endet mit dem Satz: „Gegen die Fensterscheibe klopfte eine Hummel.“
Gibt es die Realität nur draußen, außerhalb des Menschen?

Dank an Petra Lohrmann (adaptiert und erweitert für das Magazin)

  • Lukas Holliger: Unruhen. Erzählungen. Klagenfurt: Edition Meerauge im Verlag Johannes Heyn 2021. 252 Seiten, Hardcover, 11,5 x 21 cm. 24,90 Euro

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