Lüthi liest (im Dezember): Schnee und der heilige Korbinian

Für diese Kolumnen spreche ich das Thema jeweils im Voraus mit Senta Wagner (der Redaktorin dieses Magazins) ab. Irgendwann im September schreibe ich ihr, dass ich in einem Beitrag gerne über den Korbinian Verlag berichten möchte. Voraussichtlich im Dezember. Sie bejaht sofort. Als ich im Zug Richtung Frankfurter Buchmesse sitze und ein erstes Buch des Verlags lese, weiss ich also bereits, dass ich dann über den Verlag schreiben werde. Erste Gedanken machen sich mir schon im Zug, wie schreibt man ein Verlagsporträt über einen Verlag, den man nicht recht fassen kann? Ich könnte es mir einfach machen, klar. Den Verlag irgendwo im Bereich Großstadt (was ich als Schweizer ja sowieso nicht verstehe), Berlin und Hipstertum verorten. Junge, wilde, frische Literatur. Gepresst in Bücher mit hippen Covern und einwandfreier Typografie. Case closed. Ich vertage die Entscheidung und nehme mir vor, mit dem Verleger*innen-Trio, die erstmals mit ihrem Verlag auf der Messe sind, zu sprechen. Und ich muss unbedingt fragen, was es mit dem Namen auf sich hat. Korbinian.

Es wird Sonntag, bis ich endlich am Stand des Verlags eintreffe: 15 Uhr und alle sind müde, ganz besonders ich. Ich treffe da auf Katharina Holzmann und David Rabolt, zwei Drittel des Trios. Sascha Ehlert, der dritte Verleger, hat gerade eine wohlverdiente Pause. Katharina und David scheint es ähnlich zu gehen wie mir, die Tage auf der Messe haben an den Kräften gezehrt. Wir kommen ins Gespräch und reden dann lustigerweise (mir erscheint es lustig, keine Ahnung, ob es wirklich lustig ist) lange über ein Buch, das gar nicht in ihrem Verlag erschienen ist: Mostro von Leonhard Hieronymi und Christian Metzler (starfruit publications). Ein selten dummes (gerade deswegen grossartiges) Buch, in dem die beiden durch ganz Deutschland fahren und Pinocchio-Eisbecher bestellen und fotografieren.

Aber zurück zum eigentlichen Thema, ausgelöst habe ich die Diskussion um Mostro (2021), in dem ich fälschlicherweise behauptete, das Debüt von Hieronymi, das bei Korbinian erschienen ist, gelesen zu haben. Ultraromantik (2017) heisst es. Und ich habe es nicht gelesen. In meiner Müdigkeit (das werde ich nun zumindest behaupten) habe ich das glänzende Cover von Ultraromantik mit dem ebenso glänzenden Cover von Gegen die emotionale Verkümmerung (2018) von Paulina Czienskowski verwechselt (welches ich tatsächlich gelesen habe). Ist auch wirklich viel verlangt, zwei glänzende Cover auseinanderzuhalten. Wir reden noch kurz über den Ursprung des Verlags (das Wetter), den Deutschen Verlagspreis, den sie in diesem Jahr gewonnen haben, die beiden erklären mir, was „Bott“ bedeutet, und wir sprechen auch noch über die bewusst uneindeutigen Klappentexte des Verlags. Am Schluss drückt mir David einen frisch am letzten Messetag doch noch erschienenen Jutebeutel mit den für den Verlag charakteristischen Anführungszeichen in die Hand.

Erst als ich am Abend Frankfurt verlasse, wird mir klar, was ich vergessen habe zu fragen: Woher kommt der Name und was ist die Linie des Programms? Gut, ist eigentlich sowieso meine, nicht deren Aufgabe. Hier folgt also nun ein höchst anekdotischer, an sechs Beispielen geführter Beweis um den Korbinian Verlag: Um den Verlag zu fassen, müssen wir uns auf das literarische Experiment einlassen, das zu seinen Grundfesten gehört.

Die Verästelungen experimentellen Tuns

Wer experimentiert, weiss auch, dass ein Experiment immer genau dies ist: eine Versuchsanordnung. Das kann gelingen oder auch nicht. Sich erinnern, man selbst zu sein (2021) von Paulina Czienskowski fällt für mich in die zweite Kategorie. Czienskowski lässt in ihrem Buch die verschiedenen Teile eines geteilten Ichs miteinander kommunizieren – von Malwine Stauss übrigens kongenial illustriert. Die Ich-Teile werden auch typografisch durch verschiedene Schriften voneinander abgesetzt. Passieren tut wenig, es geht um den inneren Konflikt dieses Ichs und um Eis und Blitze und Erleichterung. Eine grundsätzlich spannende, ambitiöse Idee. Aber eben, auch ein Experiment.

Für mich persönlich – es sollte hier also klar sein, dass jetzt ein subjektives Urteil über meinen Leseeindruck, kein objektives Urteil über das Werk als solches folgt – war dieses geteilte Ich zu uneindeutig, als dass ich mehr daraus hätte ziehen können als die Erkenntnis, dass hier ein Ich mit sich selbst in Konflikt steht. Natürlich macht sich der Band genau dies zum Versuchsgegenstand, entzieht sich bewusst der Eindeutigkeit, schliesslich geht es um ein Ich im Selbstkonflikt. Czienskowski erzählt diesen Konflikt als literarischen Blumenstrauss, der selbst nicht so recht weiss, ob er eher aus Schilfgräsern oder Rosen besteht. Was mir fehlt, ist der Bezug, worauf zielt das Werk ab? Der Titel mag eine Richtung vorgeben, im Text selbst wird davon aber zu wenig manifestiert. Aber vielleicht bin ich auch nicht der richtige Leser für diesen Band, ich erkenne, was der Text versucht und sehe auch die literarischen Mittel der Autorin, für mich ergibt sich daraus aber kein kohärentes Ganzes.

Der ebenso ausgeprägte, aber dickere Ast

Jeder Experimenteur weiss es: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. In Gegen die emotionale Verkümmerung arbeitet Czienskowski mit den genau gleichen fragmentarischen Mitteln wie in Sich erinnern, man selbst zu sein. Also ein genauso üppiger Blumenstrauss wie der des Nachfolgers. In dieser Reflexion über eine gescheiterte toxische Beziehung geht das Experiment aber vollkommen auf. Vermischt mit Gedichten, Chatverläufen und dem Selbstgespräch eines Ichs (diesmal ganz und nicht in Teilen) wird hier seziert, woran eine Beziehung zerbricht.

Ist es fahrlässig, sich immer wieder in die Liebe zu stürzen? Offenen Auges in das, was sich so gut anfühlt, obwohl man ja weiß, wie schmerzvoll es werden kann? Vielleicht.

Czienskowski gelingt hier, was ihr vorhin nicht gelang; die mühelose Verschmelzung der Teile und Erzählformen. So entsteht ein feinsinniges, differenziertes Bild einer schwierigen Beziehung.

Rabaukerei in Inhalt & Form

Auch Jan Koslowski spielt in Rabauken (2020) mit Inhalt und Form. Gedichte, Szenen und Vorhänge haben alle ihren Platz in seiner „Novella“. Erzählt wird darin die Geschichte von Yusuf, der neben dem „anderen“ aufwacht und mit ihm glücklich wird. Oder auch nicht. Eines Tages geht der nämlich weg (geschäftlich, nur für ein paar Tage) und Clara erscheint, die auf unbekannte Weise auch Teil des von Yusuf gesuchten Glücks ist. In der Folge wird geprügelt, gefeiert oder Mofa gefahren. Alles unter dem Motto, dass man irgendwann für sich selbst das Glück finden kann. Koslowski erzählt weitschweifig, in langen Sätzen und mit einem unglaublich guten Gespür für die Gefühlsregungen seiner Hauptfigur. Man kann diesem Yusuf und seinen Eigenheiten regelrecht nachspüren, durch die Zeilen hindurch.

Zuerst sich einschäumen, mit einem Stück harter organischer, veganer Seife, das nach Sandelholz riecht, aber nur die prekären Stellen, die Achselhöhlen, das Arschloch, die Genitalien, keine Seife auf die Beine oder Arme oder den Bauch, keine Seife auf die Stellen, die keine Seife benötigen, und die durch die Seife unnötig austrocknen könnten.

Auch Rabauken ist ein Experiment. Ein Experiment, das neue Formen und Erzählweisen sucht, um die ältesten Geschichten dieser Welt zu erzählen: diejenigen von der Suche nach Liebe und dem persönlichen Glück.

Tagebuch

Das wohl konventionellste Buch aus dem Hause Korbinian ist Yin (2020) mit Gedichten von Marius Goldhorn. Tagebuchartig verarbeitet Goldhorn darin einzelne Tage und Momente. Die Gedichte haben einen stark prosaischen Einschlag, in denen es viel um Corona, Lockdown, fernöstliche Denkschulen und Ursula K. Le Guin geht. Yin als konventionell zu bezeichnen, wäre aber falsch (und fies), schliesslich denkt die zeitgenössische deutschsprachige Dichtung die Avantgarde immer auch mit. In diesem Sinne sind die Goldhorn’schen Gedichte wieder erstaunlich erfrischend, weil sie in ihrer Klar- und Direktheit dem zeitgenössischen dichterischen Schaffen entgegenlaufen.

Der (Amoklauf)

Das Nirvana Baby (2015) von Juri Sternburg – mein Exemplar riecht übrigens nach Speck, wohl ein Unfall in meinem Rucksack, den ich mir bis heute noch nicht ganz erklären kann – erzählt die Geschichte von Paul Bakunin. Paul will ein Bekennerschreiben verfassen. Er hat eine Knarre. Und er ist wütend. Dummerweise ist das aber mit Aufwand verbunden, den Paul irgendwie auch scheut. Und so rätseln wir mit Paul, ob er denn nun ein Schreiben verfassen wird oder nicht. Auch Sternburg erzählt in verschiedenen Formen, zeigt aber wie das nächste Buch den Gestaltungwillen weniger in der Form denn in den Themen.

Pixel

Ganz im Sinne des Kolportageromans finden sich in den Erzählungen von Charlotte Kraft in Die Palmen am Strand von Acapulco, sie nicken: Eine endlose Geschichte über den Tod in einer fremden Welt Untote, Labyrinthe, Schneekugeln, Künstliche Intelligenzen und allerlei weiteres, fanatisch-fantastisches Gesöcks. Der Aufbau des Bandes ist dabei halbwegs konventionell: Erzählung reiht sich an Erzählung. Der Band hat zwar zwei Teile und beginnt von beiden Seiten, im Rahmen des einfacheren Narrativs sei dies aber geschenkt. Aber es ist natürlich völlig absehbar; was die Texte formell an Experimentierfreude vermissen lassen, wird darin inhaltlich umso wüster durch die Schächte getragen.
Eine Erzählung ist komplett aus der Perspektive einer Schneekugel erzählt (O-Ton Schneekugel: „Später fühlte ich dann das Wasser.“), eine andere schildert eine Familiengeschichte, erzählt von einer K. I. und auch der Teufel tobt sich in Form eines Bockes aus, der in einer Roggennacht auftaucht:

Kein Mond schien und der Roggen stand still in der Nacht, und über dem Roggen am nächtlichen Himmel, da geschah etwas, da zog etwas vorbei. Es zog vorbei und hinterließ alles anders.

Faszinierend an den Erzählungen Krafts ist der Wille, Geschichten, die man sonst nur in niedriger literarischer Qualität erzählt bekommt, mit der absoluten Anspruchshaltung der Hochliteratur zu bestreiten (was auch immer das jetzt heisst). Die Autorin tobt sich am Abstrusen und Sonderbaren aus, findet aber einen eigenen, anspruchsvollen Zugang zu diesen Themen. Wie der Elefant im Porzellanladen poltert sie durch ihre Plots, verbindet aber das Poltern mit einer fein gearbeiteten Sprache.

ENDE der Beweisführung.

Der Korbinian Verlag schreckt nicht vor Experimenten zurück. So viel glaube ich nach sechs Büchern aus dem Hause sagen zu können. Wie aber bringt man sechs Experimente unter einen gemeinsamen Nenner? Muss man das überhaupt? Versuchen wir es so: Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie erwartet, sollten Sie zu einem Buch aus dem Hause Korbinian greifen. Tatsächlich kann ich es ganz bewusst nicht sagen, weil es Programm des Hauses ist, dass man dies über die Bücher des Hauses nicht sagen kann (wo kommt denn jetzt die gestelzte Sprache her?). Sie müssen sich als Leser*in auf Experimente einlassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dabei aber auf gelungene, mutige Literatur treffen, die ist hoch. In dieser Dichte hatte es zuvor noch kein Verlagsprogramm geschafft, mich mit jedem Buch aufs Neue zu überraschen.

Abschliessend bleibt uns noch die Frage nach dem Namen des Verlags. Korbinian war Bischof von Freising und wird als Heiliger verehrt, so Wikipedia. Interessanter aber: Korbinian wollte eigentlich seine Ruhe haben und als Eremit leben, was ihm der Papst aber mehrmals verwehrte (und mit einem Bären hat er auch mal gekämpft, also Korbinian, nicht der Papst, dies aber nur am Rande). Keine Ahnung ob, und falls ja, was dies nun mit dem Verlag zu tun hat. Aber sie wären jetzt zumindest auch diesbezüglich auf dem neuesten Stand. Wie zuvor erwähnt, ich habe in Frankfurt vergessen zu fragen. Setzen Sie diese Antwort also für sich selbst bitte einfach in Anführungszeichen.

Dank an Nick Lüthi von BookGazette

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