die sprache eine venusfliegenfalle (Notizen zu Seda Tunçs welch)
Die Dinge sind nicht das, was sie zu sein scheinen, den Wörtern und der Sprache, zu der sie sich gruppieren, kann man nicht einfach so trauen. Dieser Eindruck entsteht beim Lesen der Gedichte in Seda Tunçs welch (erschienen 2021 in der edition mosaik) sehr früh und verfestigt sich zunehmend.
Es ist kein Zufall, dass Ovid erwähnt, dass Anne Carson zitiert wird. Ja, in den Texten geht es um Metamorphosen, aber auch die Gedichte selbst verwandeln sich noch im Moment des Lesens, „unser verrücktwerden / unser schwingen / aus worten / aus wind“, sie entziehen sich auch nach einer mehrmaligen Lektüre einer eindeutigen Kategorisierung, wollen lieber Fragen sein als Antworten.
Wie Haare im Wind verhalten sich Seda Tunçs Miniaturen, „das geschnittene verstreut sich“, im Zentrum steht eine Sprache, die von dem lyrischen Ich als ungenau empfunden wird, als unzulänglich, wenn es darum geht, Dinge beim Namen zu nennen, Verhältnisse und Beziehungen mithilfe von Worten einzuordnen. Da stürzen in der Nacht Meteoriten ab, aber das Ich kann „kaum sagen / ob sie in den sand / ob sie in der ferne“, und selbst in Momenten, in denen alles einfach und eindeutig erscheint, bleiben Zweifel, wenn zum Beispiel ein Himmelsstück als blau beschrieben wird, auf der nächsten Seite aber schon die Frage folgt: „in welcher sprache ist es blau“.
Der Akt des Sprechens (oder: der Akt des Schreibens) wird von einem Zittern begleitet. Auch hier greift das Motiv der Metamorphose: Die Sprache verwandelt sich und in weiterer Folge verwandeln sich die Dinge, die sie beschreibt, ein fester Aggregatzustand scheint ausgeschlossen zu sein: „eigentlich ist die straße eine venusfliegenfalle“ heißt es am Beginn eines Textes, nur ein paar Zeilen später: „eigentlich war die sprache eine venusfliegenfalle“. Sprache wird bei Seda Tunç als etwas Organisches inszeniert, mal mehr Tier, dann wieder mehr Pflanze. In jedem Fall mit einem Eigenleben ausgestattet, von dem auch eine manchmal ins Unheimliche kippende Bedrohung ausgeht: „an meine haut / stoßen nachts worte / die ich nicht sagen konnte“.
Eines der Gedichte trägt den türkischen Titel „hiçbir şey“, es geht um das „wesentlichste“ Wort, das „aus der unschärfe des wassers der ersten sprache“ auftaucht: das Wort „nichts“. Diese erste Sprache des lyrischen Ichs wird auch an anderer Stelle thematisiert, sie erscheint als Loch, als die Bettwäsche der Großmutter, als Überreste, die in die Wüste getragen werden müssen. „erstaunlich / wie / das licht / seinen klang / im dunkeln / ändert“, so wie auch unsere Sprache anders klingt, je nachdem, mit wem wir sprechen und wo und in welchen Licht- und Beziehungsverhältnissen.
In einem gewidmeten Text („für meine Mutter“) werden die Grenzen einer gemeinsamen, einer geteilten Sprache deutlich: „ich kenne dich / ich kenne dich. nicht einmal halbwegs“. Das Leben wird von der Mutterfigur als „komische kreatur“ bezeichnet, aber es könnte genauso gut die Sprache damit gemeint sein, die ihre bedrohlichen Züge auch bei Tageslicht, auch in hellen Räumen nicht verliert: „etwas / öffnet die haut / die haut immer mehr“. Sprache als etwas von außen Übergestülptes, als Fremdkörper, der eindringen möchte, und die Haut als letzte Grenze, wo vielleicht schon andere Sinnesorgane versagt haben.
Es wäre falsch, es wäre auch schade, Seda Tunçs welch auf dieses eine Thema zu reduzieren. Es ist nur eine von vielen möglichen Lesarten, das lassen die Gedichte nicht nur zu, dafür sind sie auch angelegt. Aber im Spannungsfeld zwischen Spracherwerb und Sprachverlust lassen sich auch die anderen Themen verorten, wenn es um Identität, Fremdsein, Familie und Beziehungen geht. Um die Angst vor Verlusten und die „angst davor, einsam geblieben zu sein“.
Nicht zuletzt ist welch auch ein Buch übers Schreiben, über die Möglichkeiten (und die damit einhergehenden Schwierigkeiten), Geschichten zu erzählen: „erzählen wir / alles, was zum erzählen gehört“. Seda Tunçs Gedichte sind mit handschriftlichen Kommentaren und Korrekturen versehene Landkarten, jede Zeile ein kleiner, fast unsichtbarer Riss, und gleichzeitig der Beweis, dass es die beschriebenen Orte und Gegenden wirklich gibt. So wie man sich manchmal nur an Ereignisse erinnert, weil es Fotos gibt, oder weil man sie oft genug erzählt hat. In den Texten findet man eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart sowie eine Artenvielfalt, die am Cover nur angedeutet wird. welch ist ein Buch, durch das man sich bewegen kann wie durch ein mit viel Liebe zum Detail kuratiertes Museum. Ich empfehle wiederholte Besuche, die Anschaffung einer Jahreskarte.
Dank an Martin Peichl (Fotos © Martin Peichl + edition mosaik)
- Seda Tunç: welch. Salzburg: edition mosaik 2021. 60 Seiten. Hardcover, Fadenbindung. 148 × 105 × 5 mm. 10 Euro
Dieses Buch ist in der Lieblingsbuchhandlung oder bei liberladen erhältlich.