
Ein deutscher Literaturwissenschaftler hat 2018 ein Buch geschrieben. Poetisch denken – Die Lyrik der Gegenwart heisst es. Christian Metz betont darin, wie gut es der deutschsprachigen Lyrik geht und wie viele hervorragende Autor*innen sich in diesem Feld tummeln. Er skizziert er kurz die Geschichte der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik und hebt ihre prägenden Eigenschaften hervor. Exemplarisch greift Metz dann vier Autor*innen heraus, deren Werke er genauer beleuchtet: Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten, Steffen Popp. Poetisch denken hat sich in kürzester Zeit den Ruf eines Standardwerks zu zeitgenössischer Lyrik aus dem deutschsprachigen Raum erworben, weil der Lyrik darin ebenso fachkundig wie enthusiastisch gehuldigt wird.
Zwei Jahre später, also 2020, sind im Berliner Frohmann Verlag vier Bücher erschienen, die zumindest im Titel das Werk von Christian Metz aufgreifen, Poetisch denken 1–4. Verfasst wurden sie, man staune, von Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp. Wer die vier aber kennt, wird jetzt stutzen, Rinck und Popp erscheinen normalerweise im Berliner Indie-Verlag kookbooks, Cotten bei Suhrkamp und Wagner bei Hanser. Unwahrscheinlich also, dass gleich alle vier zeitgleich ihren Verlag gewechselt haben.
Etwas aufdröseln lässt sich dieses Rätsel, sobald man die Herausgeber der vier Bände betrachtet. Herausgegeben wurden sie nämlich vom Literaturkollektiv 0x0a, das aus Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt besteht. Beide sind Vorreiter digital-konzeptioneller Literatur und beschäftigen sich damit sowohl auf wissenschaftlicher (Bajohr) wie auch auf praktizierender (beide) Ebene. Man kann also schon vermuten, was jetzt kommt: Vermutlich haben Rinck, Wagner, Cotten und Popp nicht je einen neuen Band geschrieben, sondern die beiden Herausgeber haben irgendetwas zusammengeschustert, was in einem Zusammenhang mit dem Sekundärwerk von Christian Metz steht. Und so ist es, wie man ganz am Schluss des jeweiligen Bandes in Erfahrung bringen kann:
Generiert per Machine Learning (mit GTP-2) und unverändert wiedergegeben; erstellt auf Grundlage aller in Christian Metz’ Buch Poetisch denken (Frankfurt/M.: S. Fischer 2018) erwähnten Lyrikpublikationen Monika Rincks/ Jan Wagners/ Ann Cottens/ Steffen Popps.
Vorerst wirft das aber weitere Rätsel auf. Was ist GTP-2 (dazu gleich mehr) und warum gerade die Auswahl aus Metz‘ Buch? Dieser listet darin schliesslich einfach alle bis dato erschienenen Bände der jeweiligen Autor*in. Ein Rätsel, das ich auch nicht beantworten kann, aber immerhin dasjenige um GPT-2. GPT-2 ist ein von einer amerikanischen Softwarefirma entwickeltes neuronales Netz, das Texte generiert. Laut Herstellerfirma kann es das so gut, dass die Firma (natürlich mit viel Medien-Tamtam) das Netz ursprünglich wegen seiner Gefährlichkeit nur einem kleinen Nutzer*innenkreis zugänglich machen wollte. GPT-2 ist ein generell ausgerichtetes neuronales Netz, es generiert also Texte in allen denkbaren Formen und Gattungen. Wenn man es mit Gedichten weitertrainiert, dann spuckt es auch Gedichte aus, auf deren Grundlage basieren die vier Bände. Ann Cotten dichtet dann etwa so:
bellen sein gedanken
sodass er mit den führen und kleinen schoppor
sodass er mit den kleinen in einer anderen einschlägten kann
dann erst beginnt der kompan toten
wie eine komplizierte kaum zu sagen, sie werden
weil sie ihren stimme, sie pflanze ein ihrem schmerz –
un wenn sie ihre stimmen aus der sonne
erlert, erweist sich das zu kleine schopens
das ihres ist, die atmungen zu bekommen
die opas blassen haben wohl die stimme des lärmens […](Poetisch denken 3)
Zugegeben, schön ist das nicht, aber natürlich spannend. Was Sie da vor sich sehen, ist eine mathematische – Distanzen im Vektorraum – Annäherung an die Lyrik von Ann Cotten. Die beiden Herausgeber sind natürlich gewiefte Wortverdreher, ganz bewusst nutzen sie den Namen der Reihe als Gegensatz. Denn diese mathematische Ann Cotten, die kann ganz sicher nicht denken und sonderlich poetisch ist sie auch nicht. Dementsprechend stellt sich natürlich schnell die Frage, wie man diese Literatur einordnen soll. Da sie nicht poetisch ist, können wir sie also auch nicht anhand gebräuchlicher ästhetischer Kriterien beurteilen, sondern müssen auf das zurückgreifen, was uns der Text über sich selbst sagt. Bei konzeptionellen Texten wie diesen also deren Konzept. Aber was ist das Konzept hinter der Reihe Poetisch denken? Leider muss man da konsterniert feststellen, dass wir das nicht wissen können. Weil wir ausser dem kurzen oben schon zitierten Satz zur Entstehung über die Reihe überhaupt nichts wissen.
Aber machen wir mal eine kleine Manöverkritik über das, was wir wissen: Der Datensatz, der als Grundlage für jeden Band benutzt wurde, ist zu klein, um damit etwas Gescheites zu erzielen. Selbst wenn jeder Band von Ann Cotten 150 Gedichte enthielte und sie schon zehn Bände geschrieben hätte, 1500 Gedichte sind viel zu wenig, um ein neuronales Netz (auch eines wie GPT-2) vernünftig zu trainieren. Anwendungsbeispiel gefällig? Vor einem Jahr habe ich die Websites von fixpoetry und Lyrikline gecrawlt, gesamthaft etwa 6000 Gedichte. Damit kann man ein neuronales Netz erstellen, der Output mag zwar seine Momente haben, ist aber relativ beliebig:
Stimmt. Weißt du nicht bei sich, und ich bin
Nie wie wir aus seinem Augen
mach und das Leben und gestern
Brechen schatten eine waer durch die räumen und von ihnen
die Fraulein immer für dich, doch nicht der Fall Stanio mit
der Monattische Träume, da
ins auge zu kennt und alle
liegen als du hinan steinch
und meine musik wiegt jetzt besorgt für ein munter
Aber vor den Texten in Poetisch denken 1–4 muss sich auch dieses „Gedicht“ nicht verstecken. Anders gefragt: Warum sollte es also spannend sein, einen zu kleinen Datensatz zu nehmen, damit ein neuronales Netz zu spezifizieren und das Ganze dann unverändert wiederzugeben? Wenn ich mir diese Frage stelle, dann war es den Herausgebern natürlich sehr bewusst, dass die Texte diese Reaktion auslösen könnten. Warum also diese bewusst „schlechte“, sagen wir unfertige, statistische Annäherung an die vier Poet*innen? Bei Ann Cotten dürfte man beispielsweise erwarten, dass einige Gedichte in einem Versmass daherkommen, weil viele ihrer Bände ausschliesslich aus streng metrischen Gedichten bestehen, was bei keinem einzigen Gedicht in ihrem Band der Fall ist. Die Erklärung dazu ist schnell gegeben. Momentan stecken neuronale Netze noch in kleinen Schuhen (keine Kinderschuhe mehr, aber so Grösse 28) und haben (meist) kein Verständnis für Sinneinheiten wie Gedichte. Dadurch dann oft auch keine Ahnung von den vorangegangenen Sätzen, Worten oder gar Zeichen. Was das ausbleibende Versmass zumindest erklärt.
Im Endeffekt heisst das aber auch, dass sich die Unterschiede, die in den vier Bänden festzumachen sind, höchstens in unterschiedlicher Gedichtlänge und ein paar Idiosynkrasien feststellen lassen. Kurzum, die so von GPT-2 generierten Gedichte sind beliebig und geben kaum Einblick in die genutzte Datengrundlage. Das Rätsel um die Reihe bleibt also bestehen.
Wo sind die beiden Herausgeber Bajohr und Weichbrodt? Wo ist das Vorwort? Das Nachwort? Wenn der Output beliebig wird, weil er beliebig oft reproduziert werden kann, dann wird der Prozess umso wichtiger (fragen Sie mal einen Betriebswirt). Dementsprechend braucht gerade digital-konzeptionelle Literatur den Blick auf diese Prozesse. Aufregend sind ja nicht zwingend ihre Erzeugnisse (zumindest beim jetzigen Stand der Technik), sondern die Ideen, die dahinterstecken. Das heisst aber gerade für die Literatur, dass diese Prozesse auch entsprechend dokumentiert werden müssen und dass vielleicht der interessanteste Teil dieser Literatur nicht die Texte selbst, sondern die dazu entstandenen Sekundärtexte sind.
Gerade deswegen ist die Reihe Poetisch denken eine verlegerisch äusserst mutige Entscheidung, die man Christiane Frohmann und ihrem Verlag hoch anrechnen muss. Die Reihe Poetisch Denken ist nicht lesenswert, weil die darin abgedruckten Gedichte gut sind (geschweige denn in korrektem Deutsch daherkommen), sondern weil die Bände einer neuen Form der Literatur, einer neuen Art des Spiels mit Sprache, Ausdruck und Wertigkeit verleihen. Sie zeigen einen Zwischenschritt auf in der Entwicklung einer wichtigen neuen Spielwiese, in einer Welt voller ungeahnter Möglichkeiten. Denn, und da bin ich ziemlich sicher, Methoden des Machine Learning (oder Künstliche Intelligenz, wie alle immer sagen wollen) werden die Literatur verändern. Vielleicht wird es in Zukunft nicht mehr darum gehen, wer am besten schreibt (als ob es das je getan hätte), sondern darum, wer den besten Algorithmus geschrieben hat und auf dessen Grundlage mit menschlicher Hilfe die besten Texte erschaffen kann.
Werfen Sie also einen Blick in die unpoetischen „Gedanken“ der Maschinen Cotten, Wagner, Rinck und Popp. Ich mache mich nun auf die Reise in eine unbekannte Zukunft, wie ein „blütenschwarzes Brot, gegossen über meine Hand“. Die Reise ist noch lang, es wird aber schön.
P. S. Es sind hier am Rande noch zwei lohnenswerte Bücher zu nennen. 1. Der im Verlagshaus Berlin erschienene Essay Beugung von Christian Metz, der in kompakter Form einen Einblick in das Metz’sche Denken bietet. 2. Der von Hannes Bajohr herausgegebene Band Code und Konzept im Frohmann Verlag, der sehr schön die Erzeugnisse digitaler Literatur mit den dahinterstehenden Konzepten verbindet.
Dank an Nick Lüthi von BookGazette