Ihr Tod liegt ein Vierteljahrhundert zurück, ihr literarisches Werk ist noch viel zu vielen unbekannt. Der im Züricher Limmat Verlag erschienene Band Fern von hier vereint nun erstmals, sorgfältig editiert und mit begleitenden Essays versehen, sämtliche Erzählungen der Schweizer Autorin Adelheid Duvanel (1936–1996).
Es sind durchwegs kurze Prosatexte – Szenen aus einzelnen Leben, Porträts von Figuren, eindringliche Beschreibungen deren Innen- und Außenwelten –, die Duvanel ab den 1960er-Jahren veröffentlichte. „Die schönen, satten Menschen, deren Fleisch leuchtet, weil sie mit sich und der Welt zufrieden sind“, murmelt die Kellnerin Marlies in der Erzählung „Das Haus meiner Schwester“, als sie nach der Arbeit durch die Straßen geht und das Leben in Häusern und Gärten betrachtet. Es sind nicht diese satten, sondern die komplizierten, zerrissenen Menschen, die aus dem Rahmen der Gesellschaft fallen, die Duvanels Erzählkosmos bevölkern. Sie sind einsam, eigenbrötlerisch, haben Existenzprobleme, haben Traumata zu verarbeiten und sie sind oft in sich selbst zurückgezogen. Nicht selten wird Duvanel mit Ingeborg Bachmann oder Franz Kafka verglichen. Ihre knappe, eindringliche Prosa eröffnet eine andere Wirklichkeit, die klar und präzise erzählt ist und gleichzeitig surreale, hypnotische und teilweise traumwandlerische Züge trägt – dabei so einzigartig ist, dass sich jeglicher Vergleich erübrigt.
In dem im Buch enthaltenen Essay „Absage an die Spielregeln der Welt“ analysiert Elsbeth Dangel-Pelloquin die Poetik Adelheid Duvanels. Als ein Charakteristikum streicht sie die Art und Weise heraus, wie die Autorin ihre Erzählungen als Tor in eine „befremdliche Welt“ eröffnet. Jeder Einstieg ist unmittelbar. „Die Ohren“ etwa beginnt so:
Erika kniete auf dem Teppich und schnüffelte ein Pulver mit einer gerollten Hunderternote von einem kleinen Spiegel; sie schlug den Hund, der mitschnüffeln wollte.
Sofort ist man tief in der Welt der Protagonistin, die man nach ein bis drei Seiten ebenso rasch wieder verlässt.
Über Sprache definiert sich der Mensch. Sprache schafft Wirklichkeit und gibt einen gesellschaftlichen Rahmen vor, der für Einzelne einengend sein kann. Duvanels Protagonist:innen gehören nicht zu den Gewinner:innen, die die gesellschaftlichen Spielregeln bestimmen, und sie wiederholen nicht die Muster, die man gemeinhin als Mainstream bezeichnet. In ihrer Prosa gibt ihnen die Autorin allerdings eine Stimme und ein Eigenleben. Dafür hat sie sich erzählerischer und sprachlicher Konventionen entledigt. Das Wesen der Dinge findet sich oft in der Bedeutung des einzelnen Wortes. Zum Ausdruck kommt dies in feinen sprachlichen Verschiebungen, etwa wenn Protagonist:innen ihre oder andere Namen – der Name ist eine der frühesten Festlegungen, mit denen ein Mensch umgehen muss – verändern: eine Heilwig wird zu Heilig, Dracula zu Draculla, Karl Ali zu Karlali, Hartmut zu Hartmund.
Duvanel scheint (in allen Phasen ihres Werks) ihre Zugänge zur Sprache über ihre Figuren durchblicken zu lassen. Dies kann sehr spielerisch sein, wie etwa in der 1980 erschienenen Erzählung „Taddea“:
Taddea liebte Wörter, deren Bedeutung sie kaum kannte, die sie aber jeweils, wenn sie traurig und einsam war, vor sich hinsagte: ‚Zarewitsch‘ war eines, dann gab es noch ‚Ignatius von Loyola‘ und ‚raffsüchtig‘.
Verblüffend ist, dass sich nirgendwo ein konventionelles Sprachbild findet. In der Schilderung einer Landschaft, in der ein Kind steht und beobachtet, heißt es etwa: „Der Fluss befördert wie ein grünes Fließband zwei Enten. Ob sie mit den Füßen rudern, obwohl sie weggetragen werden?“ Dass die Enten nicht als Im-Fluss-Schwimmend beschrieben werden, zeugt von Duvanels enormer Präzisionsgabe.
In der 1988 erschienenen Erzählung „Das Gähnen“ gibt es einen weiteren Hinweis auf die Bedeutung des einzelnen Wortes:
Der Mann, der immer alle Menschen beim Wort nahm, wohnte auf dem Hügel. Seine Frau, seine Freunde und Bekannten fragten ihn: ‚Musst du denn alles wörtlich nehmen?‘ – ‚Ja‘, sagte er dann, ‚ja, ich nehme die Menschen beim Wort.‘ Worte waren für ihn so bedeutsam, dass er kaum je eines redete.
Die direkte Rede setzt Duvanel wie hier in all ihren Texten dezent und bewusst ein. Wenn sie ihre Protagonist:innen sprechen lässt, dann mit Nachdruck, wodurch die existenzielle Bedeutung der Aussage noch verstärkt wird.
Im 1991 erschienenen Band „Gnadenfrist“ sagt der Protagonist in der Erzählung „So verlief das Leben“: „Wenn man spricht, geht man haarscharf an der Wahrheit vorbei. Nur wenn man schreibt, Wörter durchstreicht, andere findet, kann man die Wahrheit treffen.“ Ob dies wohl Aufschluss über Duvanels eigene Schreibtechniken gibt?
Über Leben, Umfeld und Poetik der Autorin lässt sich in dem Band in den beigestellten Texten, Anmerkungen und Notizen erfahren. Ihre Kindheit verbringt Adelheid Feigenwinter, wie sie mit Mädchennamen hieß, in der Gemeinde Liestal, nur wenige Kilometer von Basel entfernt. Sie hat drei jüngere Geschwister. Als sie 14 Jahre alt ist, muss sie für ein Jahr in ein Mädcheninternat am Neuenburgersee; eine verstörende Erfahrung für die Jugendliche, die mit ein Grund dafür ist, dass sie mit 17 in einer psychiatrischen Anstalt landet, mit Elektroschocks behandelt wird. Sie besucht die Kunstgewerbeschule, macht eine Lehre als Textilzeichnerin und veröffentlicht erste Texte, unter Pseudonym. In dieser Zeit liest sie auch die Werke der französischen Existenzialisten, lernt andere Kunstschaffende kennen. Anfang der 1960er-Jahre geht sie eine Ehe mit dem Maler Joe Duvanel ein. Die Wohnung des Paares ist ein Treffpunkt der Basler Kunstszene. Joe Duvanel duldet es jedoch nicht, dass seine Frau ihm künstlerisch Konkurrenz macht, sie muss sich seinetwegen von der Malerei abwenden. Neben ihrem bürgerlichen Beruf als Angestellte widmet sie sich demzufolge verstärkt dem Schreiben. Sie bringt eine Tochter zur Welt, lebt mit der Familie einige Zeit auf der Insel Formentera. Joe Duvanel hat eine außereheliche Freundin, die schließlich ein Kind von ihm erwartet; zeitweise wohnen alle unter einem Dach zusammen.
Adelheid Duvanels literarische Laufbahn nimmt Fahrt auf, als 1980 der erste Erzählband beim deutschen Verlag Luchterhand erscheint. In den kommenden Jahren werden sechs weitere folgen, der letzte posthum. 1981 lassen sich Adelheid und Joe Duvanel scheiden. Sie beginnt daraufhin wieder mit dem Malen, hat Ausstellungen. Im selben Jahr nimmt sie beim Bachmannpreis teil. Die kommenden 15 Jahre sind ein Auf und Ab. Die Autorin erhält mehrere Literaturpreise, verbringt aber auch immer wieder Zeit in der Psychiatrie. Sie nimmt ihre drogenkranke, HIV-positive Tochter und die kleine Enkelin auf, ist dadurch mit der Drogenszene konfrontiert. 1996 stirbt Adelheid Duvanel in einem Wald, unter Medikamenteneinfluss, durch Unterkühlung, im Alter von 60 Jahren. Ihre Tochter stirbt 2005, die Enkelin ist bis heute verschollen.
Der Blick auf Duvanels Biografie mag so manches Motiv in ihren Texten erklären. Die streng katholische Erziehung etwa, die vom Vater ausging (die Mutter war Protestantin), findet ihren Niederschlag: „Ich weine den ganzen Tag, aber ich glaube nicht, dass Gottes Herz bricht“, sagt da eine Mutter, deren Tochter sie gerade verlassen hat.
Auch Kunst und das Künstler:innendasein findet sich an vielen Stellen: „Judiths Mutter, eine Bildhauerin, schlug die Steinbrocken andauernd und voller Wut, bis die darin gefangenen Figuren sich zeigten, von ihr in Schach gehalten.“ Duvanel greift auf Metaphern mit Kunstbezug zurück: „Seit ich schwanger bin, habe ich das Gefühl, eine Seite von mir ist ausgelöscht; es ist, als ob ein Wassertropfen auf eine Tuschezeichnung gefallen wäre.“
Häufig widerfahren ihren Protagonist:innen psychiatrische Behandlungen:
Der junge Psychiater, der hinter einem netten Gesicht ruht, das, so findet der Vater, dem Buchstaben E gleicht, hat den Vater nicht vom Zwang erlöst, sich einmal umbringen zu müssen.
In einer Erzählung, betitelt „Der Therapeut“, lebt die Protagonistin mit einem solchen in einer Wohngemeinschaft. Er beobachtet sie genau. Am Ende spricht sie den Satz: „In einen Mann mit Motorrad könnte ich mich verlieben; er müsste einen Ohrring tragen.“ Daraufhin verlässt der Therapeut die Wohnung und kehrt nie mehr zurück.
Schwangerschaft, Kindheit, Eheleben, Drogenabhängigkeit, Suizid (der Exmann Joe schied 1986 freiwillig aus dem Leben), der Tod generell finden sich häufig in Duvanels Erzählungen. In der Sammlung „Gnadenfrist“ wird an mehreren Stellen auch direkt von Missbrauch gesprochen.
Es wäre aber bei Weitem zu kurz gegriffen, Duvanels Prosa zu sehr vor ihrem biografischen Hintergrund zu betrachten. In der Beschreibung der Wahrnehmung der oft nach innen gekehrten Protagonist:innen erschafft sie Bilder, denen eine seltsame Entrücktheit innewohnt, wenn etwa ein Mädchen bei einem Fest ihre Großeltern, eigentlich vertraute Menschen, plötzlich als unheimlich erlebt:
Der hünenhafte Großvater wurde immer kleiner, während die winzige Großmutter auf den Stuhl stieg und mit sich überschlagender Stimme Witze erzählte; die Körper der anderen bogen sich und zuckten krampfhaft, und Gelächter spritzte aus ihren verzerrten Mündern; (…)
Ihre Protagonist:innen scheinen gerade aufgrund ihrer – gesellschaftlich wohl so betrachteten – Schwächen, ihrer Eigenheiten, Schrammen und Wunden der oberflächlichen Wirklichkeit entrückt oder sogar von ihr befreit zu sein. Auch komische, ins Surreale gehende Momente gibt es viele, die einen feinen, tragikomischen Humor offenbaren. Da gibt es etwa Karl, der sich, wenn er Besuch hat, am liebsten mit seinen Gästen unterhält, während er unter der Dusche steht. Oder Kurt, der ein Auto kauft, das sprechen kann. Wenn er damit zur Arbeit fährt, sagt das Auto „Schönes Wetter heute“, oder „Schade, dass es regnet.“
In ihrer sprachlichen Präzision erschafft Duvanel Szenen von magischer Schönheit. Die Schilderung der Lebensrealitäten und der Individualität ihrer Figuren steht für Menschenwürde und die Freiheit, die sich durch den von der Autorin eröffneten Sprach-Raum eröffnet, für Selbstermächtigung. Damit war Adelheid Duvanel – gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um Sprache und Identität – ihrer Zeit um Dekaden voraus. Es ist zweifellos notwendig und es wird auch hoffentlich kein Weg daran vorbeiführen, dass sie in den weltliterarischen Kanon der bedeutendsten Erzählerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts aufgenommen wird.
Dank an Erwin Uhrmann
Im Gespräch mit dem Limmat Verlag
Warum Sie sich bei der Einreichung zur Hotlist für den Band Fern von hier von Adelheid Duvanel entschieden? Was macht das Besondere des Buches aus?
Adelheid Duvanel ist eine der bedeutendsten Stimmen der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Fern von hier versammelt erstmals alle ihre Erzählungen in einem Band, mit der Absicht, der Autorin den Platz in der Literatur einzuräumen, der ihr gebührt.
Beschreiben Sie Ihren Verlag in drei Worten.
Offen, kollektiv, enthusiastisch.
Was schätzen Sie am unabhängigen Verlegen am meisten, was am wenigsten?
Am meisten schätzen wir, dass immer schon das nächste spannende Projekt um die Ecke kommt und dass wir auch Bücher realisieren können, die kein Massenerfolg werden müssen. Es ist jedoch eine Herausforderung, als kleiner Verlag auf dem riesigen Buchmarkt nicht unterzugehen.
Welche Begegnungen mit Buchmenschen haben Sie besonders geprägt?
Die Begegnung mit dem Limmat-Verlag-Autor Usama al Shahmani hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er ist eine so offene und inspirierende Person, dessen Bücher die Freude am Lesen und die Begeisterung für Literatur geradezu zelebrieren.
Was wünschen Sie Ihrem Verlag und der Buchwelt für die Zukunft?
Wir wünschen uns, dass die Buchkultur in unserer zunehmend digitalisierten Welt bestehen bleibt und dass der Limmat Verlag weiterhin viele schöne und zum Nachdenken anregende Bücher verlegen kann.
Welche Buchhandlung empfehlen Sie in Zürich?
Es gibt so viele tolle Buchhandlungen in Zürich, eine Aufzählung würde den Rahmen sprengen!
Die Redaktion morehotlist dankt für das Gespräch!
- Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin / Mit Texten von Friederike Kretzen, Elsbeth Dangel-Pelloquin. Zürich: Limmat Verlag 2021. 792 Seiten, Leinen bedruckt. SFr. 44.–, 39 Euro. E-Book sFr. 34.–
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