Was ist das perfekte Grau? Ist es nur eine Schattierung in Weiß- und Schwarzanteilen? Oder doch ein Gemütszustand, den man eher bereit ist zu erreichen als das blütenreinste Weiß oder das rabenschwärzeste Schwarz? Genau diesen Grautönen ist Salih Jamal in seinem Buch Das perfekte Grau aus dem diesjährigen Frühjahrsprogramm des Wiener Septime Verlags auf der Spur. Der Roman ist ein literarischer Roadtrip, bei dem sich vier Menschen unterschiedlichster Milieus erzwungenermaßen auf den Weg machen, um für sich einen Platz im Leben zu finden. Ob sie ihn alle erreichen werden?
Gerade bei Dante, aus dessen Sicht das Buch geschrieben ist, erscheint das schwierig bis unmöglich. Während die drei anderen, die mit ihm auf der Reise durch Mecklenburg-Vorpommern die unterschiedlichsten skurrilen Abenteuer erleben, auf der Flucht vor etwas Handfestem sind und eigentlich gar keine andere Wahl haben, standen bei Dante immer alle Möglichkeiten offen. Entweder zurückzukehren in ein stinknormales Leben mit Kind und Kegel oder wenigstens seine Flucht aktiv zu beenden. Das können die anderen nicht. Sie werden immer vor den Geistern ihrer Vergangenheit auf der Flucht sein. Oder können auch sie etwas tun?
Denn zwischen dem reinsten Weiß und unserem vollkommensten Schwarz liegen Millionen Stufen von Grau. Manche Töne sind sichtbar, und einige von sind für andere das perfekte Grau. Vielleicht sind es gar nicht die Farben, die uns füreinander besonders machen, sondern die Schatten, die wir aneinander deuten.
Doch von vorn. Wir lernen Dante kennen, als er in einem Hotel arbeitet und dort als eine Art Hausmeister alles Mögliche zu tun hat. In diesem Hotel arbeiten auch Mimi und Rofu, mit denen Dante wenig später auf der Flucht sein wird. Zu ihnen stößt dann noch Novelle dazu, eine flippige und unausgeglichen wirkende junge Frau. Durch unglückliche Umstände werden die vier zu einem engen Bund zusammengeschweißt und begeben sich auf eine Reise durch das mecklenburgische Seenland, zuerst mit dem Boot, dann zu Fuß und später mit Fahrrädern.
Der Roman wirkt eingangs sehr unscheinbar, an manchen Stellen sogar recht philosophisch. In den ersten Kapiteln lullt er regelrecht in eine kuschelige Ostseeromantik ein. Doch recht schnell wird klar, dass uns der Autor mit diesem Bild nicht so einfach davonkommen lässt. Denn alle Figuren sind auf die eine oder andere Art beschädigt. Sei es durch ihre Flucht aus Afrika nach Europa, wie es Rofu geschehen ist, durch ihre Flucht vor dem Gesetz, da Mimi etwas auf dem Kerbholz hat, oder durch ihre Flucht vor dem eigenen Vater, der Novelle nach dem Tod der Mutter missbraucht hat. All diese Geschichten geben den Figuren eine ungeahnte Tiefe und dem Roman eine ungeahnte Dynamik, insbesondere in der zweiten Hälfte. Jamal versteht es geschickt, erst mit Andeutungen und dann mit immer mehr Details die jeweiligen Hintergründe der Figuren zu zeichnen. Ihr Roadtrip, der an den Roman Tschick erinnert, spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Sprachlich zündet der Autor im gesamten Buch ein riesengroßes sprachliches Feuerwerk, dass einem an vielen Stellen vor lauter Staunen der Mund offen steht vor so viel Schönheit in den Sätzen. Leider wird man dieser schönen Sätze im ersten Drittel etwas überdrüssig, da sie sehr gehäuft vorkommen. Insbesondere, wenn sich zu Beginn der Flucht alle vier die Lebensweisheiten um die Ohren hauen.
… mich interessiert eher die Gegenwart […] Sie ist so flüchtig und man muss höllisch aufpassen, weil sie ja einem mit jeder Sekunde quasi vom Teller wegstirbt. Deshalb ist der Moment das Wichtigste. Wer ihn verpasst, ist in der nächsten Sekunde gekniffen.
Insgesamt ist Das perfekte Grau ein Buch über Flucht in all ihren Facetten und auch über das Ankommen in einem neuen Leben. Es geht nicht um das, was war, sondern vielmehr darum, wohin es gehen soll. Doch um anzukommen, muss man erst einmal die Dämonen der Vergangenheit besiegen. Diesen Kreis vollzieht Jamal anhand der vier Lebensläufe nahezu perfekt und findet so für jede Figur ein passendes Ende. Für Dante wird es ein Finale geben, das garantiert Gänsehaut verursacht, da er in eine Situation gerät, in der er sich endlich einmal entscheiden muss. So viel darf an dieser Stelle verraten werden.
Dank an Marc Richter von We read Indie (Marc hat den Roman Anfang des Jahres schon hier besprochen und ihn für das Hotlistlesen erneut gelesen)
Im Gespräch mit dem Septime Verlag

Warum habt ihr euch bei der Einreichung zur Hotlist 2021 für den Roman Das perfekte Grau von Salih Jamal entschieden? Was macht das Besondere des Buches aus?
Diese Entscheidung fällten diesmal Leserin und Leser, Buchhandlungen und die Presse. Das perfekte Grau erschien bereits im Jänner und hat seither unzählige Reaktionen und Kritiken hervorgerufen, aber jede war positiv – bis äußerst positiv. Es wäre lächerlich gewesen, wenn wir von irgendeinem anderen Buch in diesem Jahr behauptet hätten, es sei ein „heißerer“ Titel.
Beschreibt euren Verlag in drei Worten.
Modern / International / Qualitativ
Was schätzt ihr an unabhängigen Verlagen am meisten, was am wenigsten?
Wir schätzen, dass sie gute Sachen machen, sich weniger um den Mainstream kümmern und literarische Schätze heben. Weniger schätzen wir, wenn sich Indies selbst bemitleiden.
Welche Begegnungen mit Buchmenschen haben euch besonders geprägt?
Die vielen Gespräche auf den Messen – mit Verlagen, Buchhändler*innen und selbstverständlich mit Leser*innen.
Was wünscht ihr eurem Verlag und der Buchwelt für die Zukunft?
Dass in der Bildung nie aufgegeben wird, das Buch zu fördern – es wäre schade, wenn am Ende YouTube, Netflix etc. die Oberhand bekämen.
Welche unabhängige Buchhandlung empfehlt ihr?
Keine – es gibt so viele hervorragende Buchhandlungen, dass es keine verdient hat hier neben nur einer „nicht“ genannt zu werden.
Die Redaktion morehotlist dankt Jürgen Schütz für das Gespräch!
- Salih Jamal: Das perfekte Grau. Roman. Wien: Septime Verlag 2021. 240 Seiten, gebunden. 22,90 Euro.
Dieses Buch ist in der Lieblingsbuchhandlung erhältlich oder hier.