Ling Ma: New York Ghost / CulturBooks Verlag im Gespräch

New York Ghost von Ling Ma ist ein beklemmend aktueller Roman, der sich aber trotz der geschilderten Ereignisse nicht den Schuh eines „Corona-Romans“ anziehen muss, denn die amerikanische Autorin hat das englische Original (Severence) bereits 2018 veröffentlicht und gleich zahlreiche Preise dafür bekommen. Die deutsche Übersetzung von Zoë Beck ist im Frühjahr 2021im Hamburger CulturBooks Verlag erschienen.

New York Ghost ist nicht nur der Titel des Debütromans, sondern auch der Name des Fotoblogs, den die Protagonistin Chandace Chen führt. Als sie vor fünf Jahren jung, naiv und ohne große Erwartungen nach New York kam, hat sie dort mit ihren Fotos ihren persönlichen Blick auf die Stadt festgehalten. Doch das gehört der Vergangenheit an. Nun arbeitet sie bei einem Verlagsdienstleister als Projektkoordinatorin und ist für den Druck von Bibeln in Asien zuständig. Im Büro warten die immer selben Probleme (beispielsweise reißt Bibelpapier schnell beim Druck), die immer selben Streitereien zwischen Kolleg*innen, die immer selben Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Die Monotonie ihres Alltags wird unterbrochen, als a) ihr Freund mit ihr Schluss macht und b) eine globale Pandemie die Welt lahmlegt. Punkt a) bleibt den ganzen Roman über seltsam vage und beeinflusst doch Chandace’ Umgang mit Punkt b).

Denn das Shen-Fieber greift um sich. Die Infizierten fallen in eine Lethargie, in der sie die immer gleichen Tätigkeiten wiederholen, zum Beispiel den Tisch decken oder Mails verschicken. Dabei vergessen sie alles um sich herum, Unterernährung und Verwahrlosung sind die Folgen – bis zum Tod.
Chandace entschließt sich, trotz der Pandemie in New York zu bleiben, auch, weil ihre Firma ihr ein verlockendes Angebot macht: Wenn sie bis zu einem bestimmten Datum weiterhin jeden Tag ins Büro kommt, bekommt sie eine nicht zu verachtende Geldsumme überwiesen. Dass schon bald keine Arbeit mehr da ist, die zu erledigen wäre, ignoriert Chandace. Der tägliche Weg ins Büro sorgt für Routine und Struktur in einem Leben, das immer mehr einem Endzeitfilm ähnelt.

Nach dem ENDE kam der ANFANG. Und am ANFANG waren wir acht, dann neun – das war ich –, eine Zahl, die nur abnehmen würde. Wir fanden einander, nachdem wir aus New York in die sichereren ländlichen Gefilde geflohen waren. Das hatten wir so in Filmen gesehen, auch wenn niemand sagen konnte, in welchem genau. Vieles verlief nicht so, wie wir es von der Leinwand kannten.

Ling Ma

Und so streift Chandace durch ein fast verlassenes New York, begegnet nur noch einigen wenigen Taxifahrer*innen und Sicherheitspersonal, das die leer stehenden Häuser bewachen soll. Der sinnlose Weg zur Arbeit steht den sinnlosen Tätigkeiten der Fiebernden in nichts nach und doch hält Chandace daran fest, schließlich muss das Büro besetzt bleiben. Bis sie zu einem Entschluss kommt – und ins Büro zieht. Als Leser*in ist man zu diesem Zeitpunkt mehr als verwirrt über die Hörigkeit gegenüber dem Arbeitgeber. Und gleichzeitig fragt man sich still, ob man nicht genauso reagieren würde. Die Arbeitsmarktkritik, die Ling Ma hier in ihren Roman einwebt, ist gleichzeitig subtil wie eindringlich. Warum lockt Chandace das Geld? Was will sie damit erreichen in einer Stadt, in der Plünderungen für leere Geschäfte gesorgt haben? Oder, naja, fast leere Geschäfte. Einige der Fiebernden treiben sich hier noch herum, gehen lethargisch ihren gewohnten Tätigkeiten nach, legen Pullover in Kleidungsgeschäften zusammen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, bis sie sterben.

Vor der Lektüre von New York Ghost war ich mir nicht sicher, ob gerade der richtige Zeitpunkt dafür ist, ein Buch über eine globale Pandemie zu lesen. Doch ehrlicherweise macht die Aktualität die Lektüre besonders aufschlussreich. Hätte ich 2018 beispielsweise schon gewusst, was N95-Masken sind, die von Chandace’ Firma an die Angestellten verteilt werden. Nun wirkt so vieles nachvollziehbarer und bleibt doch seltsam fern. Die Pandemie selbst interessiert Chandace nämlich erstaunlicherweise kaum. Stattdessen lernen wir in Rückblenden mehr über ihr Leben, begleiten sie etwa zu Arbeitsreisen nach Hongkong, um über die dortigen Arbeitsverhältnisse aufgeklärt zu werden (auch hier wieder inklusive einer subtilen Globalisierungskritik, die nachdenklich stimmt). Und wir lernen ihr neues Leben kennen, nachdem Chandace New York doch verlassen und sich einer Gruppe Überlebender angeschlossen hat, die auf der Suche nach einem sicheren Zuhause sind.

Ist das der Ausblick, was uns mit Corona noch erwarten wird? Wer weiß. Ling Ma lässt das Ende offen, es gibt weder ein Happy End noch bewegt sich alles auf eine düstere Dystopie zu. Stattdessen schließt man das Buch mit einigen Fragen im Kopf und das ist doch eine der besten Eigenschaften von guten Büchern.

Dank an Marina Müller-Nauhaus von We read Indie

Im Gespräch mit CulturBooks

Zoë Beck und Jan Karsten (Foto © Victoria Tomaschko)

Liebe Zoë, lieber Jan, warum habt ihr euch bei der Einreichung zur Hotlist für den Roman New York Ghost von Ling Ma entschieden? Was macht das Besondere des Romans aus?
Ling Mas Roman New York Ghost ist so erschreckend klarsichtig, was große Themen wie Globalisierung und westlichen Kapitalismus, aber auch was Menschsein und Selbsterkenntnis betrifft, dazu ist er fantastisch geschrieben – dass die Autorin mit dem 2018 veröffentlichten Debüt schon so viel von der Coronapandemie vorwegnimmt, konnten weder sie noch wir ahnen! In jedem Fall ein herausragendes, intelligent komponiertes und dazu beklemmend aktuelles Buch.

Beschreibt euren Verlag in drei Worten.
Welt Klasse Bücher.

Was schätzt ihr am unabhängigen Verlegen am meisten, was am wenigsten?
Eben diese Unabhängigkeit, tun zu können, was wir für wichtig erachten, ohne Konzerndruck oder Leistungsvorgaben. Die größte Sorge sind die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für unabhängiges Verlegen, die, wenn nicht überzeugend und strukturell gegengesteuert wird, eine reale Bedrohung für die heute noch so wunderbar vorhandene Vielfalt der deutschen Verlagslandschaft sind.

Welche Begegnungen mit Buchmenschen haben euch besonders beeindruckt und geprägt?
Als wir mit dem Germanistikkurs bei der Lesung eines sehr bekannten, sehr preisgekrönten Schriftstellers waren und alle einschliefen. Da entstand die Überzeugung: Literatur und ihre Vermittlung muss auch anders möglich sein!

Was wünscht ihr euch und der Buchwelt für die Zukunft?
Weiterhin sehr viele literaturbegeisterte Menschen, die sehr gern und viel lesen und neugierig sind und bleiben. Stabile Unterstützung und Förderung für die unabhängigen Verlags- und Buchhandelsstrukturen.

Welche Buchhandlung empfehlt ihr in Hamburg?
Es gibt hier glücklicherweise eine ganze Reihe von ganz wunderbaren Buchhandlungen, vom Buchladen Osterstraße, Büchereck Niendorf, Cohen + Dobernigg, Lüders, Buchhandlung Christiansen, Lesesaal bis zu Stories und vielen anderen mehr – und sogar Neugründungen mitten in der Pandemie. Für diesen mutigen Schritt wünschen wir der Buchhandlung Blattgold alles Gute!

Die Redaktion morehotlist dankt für das Gespräch!

  • Ling Ma: New York Ghost. Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Hamburg: CulturBooks Verlag 2021. 360 Seiten, Hardcover. 23 Euro (D)

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