Natascha Gangl und Ulrike Schrimpf über: Das Spiel von der Einverleibung (starfruit publications)

Manche Bücher bleiben einem nahezu körperlich in Erinnerung; sie schreiben sich in einen ein, halten sich fest, halten einen fest. Jedes Mal, wenn man im Vorübergehen einen Blick auf sie wirft, eingeordnet in ein Bücherregal oder abgelegt auf einem Bücherstapel, spürt man noch ihre Nähe und die Lebendigkeit und Intensität, die sie in einem ausgelöst haben. Das ist ein besonderes Glück. Mir ist aufgefallen, dass ich diesen Vorgang häufiger mit Büchern erlebe, in denen sich Bilder und Texte zusammenfinden: Ein Beispiel dafür ist Natascha Gangls Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn, 2020 erschienen bei bei starfruit publications. Zum 50. Todestag von Unica Zürn, einer aus verschiedenen Gründen bemerkenswerten Ausnahme-Künstlerin des Surrealismus, hat sich Gangl quer durch Europa auf ihre Spurensuche begeben und Orte besucht, die eine wichtige Rolle in Zürns Leben und Werk spielten. Entstanden ist auf diesem Weg ein vielschichtiges und -stimmiges Werk, durchwoben von den kongenialen Bildern des Künstlers Toño Camuñas, eine bewegende Collage aus Gedanken, Szenerien, Bildern, Textsorten, Symbolen und Motiven, in der Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verknüpft sind, das Erleben Zürns und Gangls, Wirklichkeit und Fantastik./Ulrike Schrimpf

Das Gespräch

Natascha Gangl (© sentafoto)

Liebe Natascha Gangl, Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, vermutlich auch in Anlehnung an das Theaterstück von Albee Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, „Wer hat Angst vor Unica Zürn?“ Haben/hatten Sie Angst vor Unica Zürn? Haben sich Ihre Gefühle ihr und ihrem Werk gegenüber durch das Verfassen des Buches geändert? Wenn ja, wie?

Als ich begonnen habe, mich Unica Zürn zu nähern, kamen von den wenigen, die wussten, von wem ich rede oder schreibe, besorgte Kommentare („Und … wie geht es Dir dabei?“). Mir wurde nahegelegt, vorsichtig zu sein, es gab dramatische Sätze wie „die einzige Lehrveranstaltung zu Unica Zürn wird nicht mehr fortgesetzt, da sich die Student*innen (besonders die Studentinnen) zu sehr mit Zürn identifizieren“. Daher die Frage: Wer hat Angst vor Unica Zürn? Zürn scheint gefährlich zu sein … was natürlich reizt! Warum? Weil sie anspricht, was keinen Namen bekommen soll? Ist es die Angst, über psychische Erkrankung oder Suizid zu sprechen? Über Zwangssterilisationen, über Abtreibungen? Über Halluzinationen? Träume? Über Versuche, sich des Einflusses der „weißen Männer“ zu entziehen?  Ist es die Angst vor dem magischen Spiel mit Realität und Fiktion? Oder ist es vor allem eine Angst vor ihren Formen, die sich vielleicht nicht auf den ersten Blick einordnen lassen, nicht einfach so konsumierbar sind? Für mich hatten Zürns Texte etwas Befreiendes, etwas Heilsames, als hätte ich einen Stern im System gefunden, auf den ich eigenes Schaffen beziehen kann, eigene Techniken benennen lerne, eine Tradition im Rücken, durch die auch das Schaffen rund um mich, jetzt, neu lesbar, weiter verstehbar wird.

Sie sind als Künstlerin besonders vielfältig, schreiben Theatertexte, Prosa, Essays, Hörstücke, gestalten Live-Klang-Comics und theatrale Installationen, wie Sie es nennen. Ihr Interesse an Unica Zürn, dieser mindestens zweifach Hochbegabten – in Wort und Bild –, liegt also auf gewisse Weise nahe. Dennoch: Warum ein Buch zu Unica Zürn? Und warum dieses Buch?

Begonnen hat alles mit dem Wunsch Das Haus der Krankheiten für das Kabinetttheater Wien zu dramatisieren, Julia Reicherts‘ Figuren- und Objekttheater, das Zürns Jonglieren mit Größenverhältnissen und Bedeutungsgrößen ganz ideal auf die Bühne übersetzen kann. Aber beim Studieren der Gesamtausgabe von Unica Zürn (erschienen bei Brinkmann & Bose) ging mir schnell auf, dass Zürn nicht nur Anagramme schrieb, sondern auch in der Prosa „anagrammierte“. Dass es Grundmotive wie z. B. Figuren, Zahlenspiele, Ereignisse gibt, die sich wiederholen. Ich wollte diese Grundmotive wie Bausteine herausarbeiten und in neun Kapiteln (von eins wie Einsamkeit bis zur neun, ihrer Lieblingszahl, die für sie „Leben“ heißt) anordnen. Beim Erstellen dieses dramatischen Anagramms war ich Stipendiatin am LCB Berlin, unweit vom Grunewald, dem Villenviertel, in dem Zürn aufwuchs. Ein Glück, natürlich bin ich auf Erkundungstour, auf der viele überraschende Zufälle an jeder Ecke lauerten und die mir das, was an den Texten als magisch oder surreal beschrieben werden kann, sehr real nach-lesbar machten. Also folgte die nächste und die nächste dieser Erkundungen, die für mich zu einem Spiel wurden, zu einem Spiel, das ich nicht aufhören konnte zu spielen, ein willkommener Kontrollverlust, bis ich am Atlantik angekommen war, mit einer Menge an Notizen vor mir, die ein Buch machen wollten.

© Toño Camuñas

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Unica Zürn persönlich zu treffen, was würden Sie mit ihr machen? Wohin würden Sie mit ihr gehen, wo sich aufhalten, womit sich befassen?

Heute: Würde ich gerne im kalten Atlantik schwimmen mit ihr.

Wenn Sie Unica Zürn zwei Fragen stellen könnten, welche wären das?

Ich kann zwei Wege empfehlen, um Unica Zürn Fragen zu stellen:

  1. Notiere die Frage. (Tipp: Halte dich kurz.) Anagrammiere die Antwort.
  2. Notiere die Frage auf ein Stück Papier. Leg das Papier in eine Schale. Fackel es ab. Lies im Rauchzeichen.

Die lyrische Form des Anagramms gilt als besonders kompliziert, An mancher Stelle wird sogar behauptet, die verschiedenen Ausbrüche von Zürns psychischer Erkrankung seien u.a. auf ihre intensive Beschäftigung mit dem Anagramm zurückzuführen, die sie also „in den Wahnsinn getrieben“ habe:

Das brennt, das regt sich, dem Anagramm wohnt der beständige Anfang inne, es kann zu keinem Ende kommen, es verändert sich immer weiter, einzig seine Erschafferin kann den Punkt setzen. (…) Wunder, Überraschung, das radikal Neue im Vertrauten, und ein Anfang, der zyklisch wiederkehrt, und der Welt, dir, mir, ihr, Ihnen, Sinn – und Unsinn – eröffnet.

Wie stehen Sie persönlich zu der literarischen Form?

Das Anagrammieren zu lernen, ist zu einer Reise in der Reise geworden, die das Buch macht, und das Prinzip „Anagramm“ schon fast zu einer Grundhaltung im Arbeiten. Ich mag die Spannung zwischen strenger Form, die so rigoros eingehalten wird, dass sie zu völlig unkontrollierbarem Sinn führt. Durch Zerlegen und Zusammenfügen öffnet sich die Unendlichkeit der Möglichkeit, jeder Schluss kann 3 2 1! zum Trugschluss werden. Eine Haltung, die glaube ich, sehr wichtig ist, nähert sich eine dem Leben einer anderen.

© Toño Camuñas

Sie nähern sich Unica Zürn und ihrem künstlerischen Schaffen, indem Sie verschiedene Orte aufsuchten, die für ihr Leben und ihre Arbeit wichtig waren. Was bedeutet Ihnen die Arbeit mit Orten und Lokalitäten, also mit „Topoi“ im ursprünglichen Sinne des Wortes, auch im Unterschied zu etwa der Arbeit mit Erinnerungsdokumenten wie Bildern, Fotografien oder Briefen?

Dass der Zufall hier Protagonist wird. Dadurch, dass eine Art der Wiederholung, ein kleines Reenactment heraufbeschworen wird, diktiert ein unwiederholbarer, unplanbarer Moment den Text. Das Aufsuchen der Orte hat mich Mal ums Mal mit Beobachtungen beschenkt, die zu Gewissheiten und auch zu immer mehr „Paradoxa“ geführt haben.
Ein Beispiel: Zürn verteilt sechs weiße Papiertaschentücher am Wittenbergplatz, als Zeichen für jemanden, der nach ihr kommen wird, und ich finde dort sechs Papiertaschentücher, wie zu einem Zeichen aufgelegt.

Wenn man über Zürn schreibt, ist es unmöglich, den Bereich der psychischen Erkrankungen und schizophrenen Phänomene und deren Einfluss auf das Schaffen von betroffenen Künstler*innen zu umgehen. Ruth Henry, die seit den 1950ern im Kreis der französischen Surrealisten lebte und Zürns Bücher Der Mann im Jasmin und Dunkler Frühling ins Französische übersetzte, hat sich in ihrem klugen Buch Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn vehement gegen eine weit verbreitete idealisierende Verherrlichung von Wahnsinn als inspirierender, schöpferischer Kraft gestellt: „Endgültige Verachtung habe ich seither für jene intellektuellen Taschenspieler, welche sich mit literarischer Genüsslichkeit über den Zauber von Wahnsinnsäußerungen verbreiten. Hat einer je den Preis aus der Nähe gesehen, gespürt, geschmeckt, den man fürs Anders-Sein zu entrichten hat?“
Auch Sie schreiben in Ihrem Buch, es sei nicht einfach, „das ,Stigma des Pathologischen’“, das Zürns Texten zugeordnet wird, zu umschiffen“. War das eine Ihrer wesentlichen Intentionen mit und in dem Buch?

Was auffällt: Dass bei Künstlerinnen gerne das Werk verwendet wird, um eine schwierige Biographie zu „illustrieren“, während bei Künstlern die Biographie zum genialen Werk führt. Diese Biographie-Sucht wollte ich gerne ad absurdum führen. Das ist hoffentlich passiert.

© sentafoto

Zwei Prosatexte Zürns haben mich besonders bewegt, als ich mich, angeregt durch Ihr Buch, mit ihrem Werk befasste. Beide spielen auch in Ihrem Buch eine Rolle: die Katzengeschichte aus Ermenonville und eine sogenannte Kindheitserinnerung aus Der Mann im Jasmin. Bemerkenswert an der Katzengeschichte ist, dass Zürn sie bewusst für ihren Enkel schrieb, der selbst eine Katze hatte, und dass ihre Geschichte rein gar nichts mit sonstigen hellen, liebenswürdigen Kindergeschichten gemein hat: Zürns Text handelt von einem furchterregenden, unheimlichen Kater, der alle Jungen einer Vogelmutter auffrisst. Auch in dem anderen Prosatext paaren sich kindliche Niedlichkeit und Unbedarftheit mit Grausamkeit und Brutalität: Zürn beschreibt hier „das einzige Mal in meinem Leben, dass ich jemanden gerettet habe“: Als kleines Mädchen schneidet sie ein kleines Teufelsbaby aus einem Bilderbuch aus, das auf einem Bild in der Feuerhölle schmort, weil es ihr so leidtut, und bettet es in eine Nussschale: „Ach, war ich glücklich.“
Wie deuten Sie diese eigentümlichen Paarungen? Sind sie möglicherweise auch signifikant für Ihr eigenes künstlerisches Schaffen und für das Ihres Künstlergefährten Toño Camuñas, dessen Kunst als „poetischer Terrorismus“ beschrieben wird?

Ja, ich glaube, das ist, was verbindet: Der Drang, immer wieder Dualitäten zu fusionieren, die Liebe zu harten Brüchen, zu „Schockern“, auch ein morbider Humor. Zürn schreibt „Ich bin ein altes Kind.“ Toño ist eine Art Peter Pan, der seinen ganz eigenen Archetypen-Zoo mit Teufel, Dämonen, Häschen, Enten, Calaveritas, Bild um Bild durchanagrammiert. Ich habe Zürn für mich entdeckt, als ich gerade die Arbeit an meinem ersten Buch Wendy fährt nach Mexiko abgeschlossen habe … Bei Zürn findet sich kein Denken in üblichen Kategorien von krank/gesund, gut/böse. Die Bilder, Schlüsse, Urteile anagrammieren sich – früher oder später – einfach um, Geschlecht bleibt wandelbar, Alter relativ, Subjektivität polyphon.

Ihr Buch ist bei starfruit publications erschienen, einem Verlag, dem es betont um die Verbindung von Bild und Text geht. Inwieweit war/ist diese Verbindung wichtig, um über Zürn zu schreiben, und was bedeutet sie Ihnen persönlich? Malen Sie auch oder sind Sie anders bildnerisch/gestalterisch tätig?

Als ich das Spiel von der Einverleibung für mich durchgespielt hatte und die Frage nach dem Verlag auftauchte, war es ein großer Wunsch, dass das Buch auch ein visuelles Spiel wird. Dass man Zürn auch im Bild ins heute übersetzt, dass es bunt, wild, lebendig wird und Zürn in ihrem Witz, ihrer Frechheit und ihrer Kraft gefeiert wird und dass sie und nicht zum wiederholten Male den starken Filter „Melancholie“ oder „Fragilität“ übergelegt bekommt, den ausschließenden ausschließlichen Opfer-Filter, der so gern über das Bild der starken Frau gesetzt wurde. Dass ein Verlag, den ich so lange bewundert habe wie starfruit, Lust auf diese Publikation hatte, Manfred Rothenberger die Verbindung zu Toño Camuñas erkannte und die Gestaltung des Buches so viel Zeit und Raum einnehmen durfte, waren ein großes Glück.
Bei mir hat sich das Schreiben früh aus dem Malen heraus ergeben, das Schreiben hat ins Theater geführt, das Theater zu Installationen und Hörstücken, und die Hörstücke beginnen jetzt wiederum zaghaft ins Visuelle zu führen, geradezu in eine Erkundung graphischer Partituren und konkreter Poesie. Sie werden zu Sprachblättern, zu Formen gewebter Sprache.

Wow! Danke Natascha Gangl und Ulrike Schrimpf für das Gespräch!

  • Natascha Gangl: Das Spiel von der Einverleibung – Frei nach Unica Zürn. Mit Bildern von Toño Camuñas. Herausgeber: Manfred Rothenberger in Zusammenarbeit mit dem Institut für moderne Kunst Nürnberg. Gestaltung: Timo Reger. 232 Seiten mit 18 doppelseitigen Farbabbildungen. Hardcover.14 x 21 cm. 25 Euro

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