
Die Welt: ein Narrenhaus. Keiner hat den Überblick und täglich wird es unübersichtlicher. Bereiche differenzieren sich aus bis in die letzte Kommastelle, immer mehr Wirklichkeiten existieren nebeneinander und im Zeitalter von alternativen Fakten und ihren Echokammern erscheint das, was irgendwann als Gewissheit galt, wie ein Relikt vergangener Tage. In der Mottenkiste gleich neben Musikkassetten oder speckigen Trachtenhüten einsortiert.
Tatsächlich finden sich beide Motive gar nicht so selten in Jim Avignons Schaubildern, wie er sie nennt. Dass diese nun im wie ein dtv-Atlas anmutenden Bändchen Welt und Wirklichkeit, bei dem auch der Bindestrich zwischen Jim und Avignon nicht fehlen darf, erschienen sind, ist dennoch weniger ein Anachronismus als der vielmehr geglückte Versuch, ohne lang zu fackeln die ganz großen humanwissenschaftlichen Brocken anzubohren und auf den Punkt zu bringen.
Das nämlich kann Jim Avignon ganz hervorragend. Ausgestattet mit der Fähigkeit, in wenigen Strichen ganze Weltbilder zu demontieren und der Gesellschaft augenzwinkernd einen Spiegel bzw. das zum Selfie gezückte Smartphone vorzuhalten, zieren Jim Avignons Bilder mittlerweile Wände von New York über Ramallah bis zur Berliner Mauer. Seit den frühen 1990ern fängt der malende Essayist den Zeitgeist samt ambivalenter Lebensgefühle stets farbenfroh ein.
80 Bilder solcherart sind im vorliegenden Buch versammelt, arrangiert mit passenden Texten von Musikerkolleginnen (Jim Avignon ist unter dem Namen Neoangin auch als 1-Mann-Elektronikband unterwegs) und Schriftstellern, die kaum eine Frage offen lassen: „Religion ist, wenn man etwas so absolut geil oder ungeil findet, dass man sich dafür in den Schützengraben legt“, heißt es in Doris Akraps Lexikoneintrag über Religion. Was Politik ist, erklärt Imran Ayata anhand eines Techtelmechtels, coronabedingt via Videochat, jede Menge Schnaps und Sex inklusive. Das Wesen der Ökonomie dekliniert Anke Stelling an einem Menschenleben durch, die Kalkulation beginnt freilich schon im Mutterbauch, fest steht:
Ökonomie ist anstrengend. Hat sehr viel mit Rechnen und Zuteilen sowie Verweigern und Grenzen setzen zu tun. Alle wollen was, und schon geht es wild durcheinander.

Wer jetzt beim dahintersteckenden Verlag an den Verbrecher Verlag denkt, liegt völlig richtig. Mittlerweile zur erstklassigen Adresse in Sachen Literatur, Politik und gesellschaftliche Themen avanciert, lohnt sich der Griff zu Welt und Wirklichkeit also gleich doppelt. Die pointierten Informationen über insgesamt 21 Themen, darunter etwa auch Burn-out, Pubertät und Science-Fiction, versammeln schließlich fast so etwas wie das Who’s who des Verlags: Doris Akrap, Imran Ayata, Nadire Y. Biskin, Philip Böhm, Françoise Cactus, Tom Combo, Ann Cotten, Jens Friebe, Heike Geißler, Ulrich Gutmair, Paula Irmschler, Svenja Leiber, Kathrin Passig, Kuku Schrapnell, Tijan Sila, Andreas Spechtl, Anke Stelling, Florian Thalhofer, Tucké Royale und David Wagner sind es, die zusammen mit Jim Avignon in einem Panoptikum der Extraklasse die Welt und ihre Wirklichkeit erklären.
Dank an Lucia Schöllhuber
- Jim-Avignon: Welt und Wirklichkeit. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 160 Seiten, Broschur. 18 Euro.
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