Anna Herzig im Gespräch mit Patricia Malcher

Der sechsjährige Verlag TEXT/RAHMEN aus meiner Heimtstadt Wien (und meinem heiß geliebten Bezirk Ottakring) hat der deutschen Schriftstellerin Patricia Malcher und ihrem Debütroman LIEB KIND ein Zuhause gegeben, und nicht nur ihr. Der Verlag sieht sich mit seinem gerahmten literarischen und künstlerischen Programm als Schließer von Lücken, „die zwischen den großen Publikumsverlagen entstehen“.
LIEB KIND steht (zu Recht) auf der diesjährigen Kandidatenliste für die Hotlist 2021. Patricia Malcher hat mit mir über ihren beklemmenden Roman gesprochen, der stellenweise so brillant rasant kippt, dass man voller Panik nach einem Fallschirm greifen möchte.

Worum gehts? „Jens (39) ist ein guter Mensch geworden. Was, nach Meinung seiner Mutter Marianne (63), nicht zu erwarten gewesen war. Beide verbindet eine enge, unheilvolle Beziehung, die Auswirkungen auf Jens‘ Liebesleben hat. Kathrin, seine langjährige Partnerin, bricht den Kontakt ab und enthält ihm ihren gemeinsamen Sohn vor. Als Jens sich in Pia verliebt, wird es Zeit, die dominante Verbindung zu seiner Mutter zu kappen. Doch Marianne ist anderer Ansicht. Denn sie hat einen guten Grund, Jens im Auge zu behalten.“ (Verlagsinfo)

Und los!

Liebe Patricia, wie findest du den Mut zu Abgrundtiefem?

Abgrundtiefes zu denken oder aufzuschreiben, fällt mir leicht. Schließlich schaue ich auch sehr gerne düstere skandinavische Krimis … Wozu es Mut braucht, ist es, Abgrundtiefes vor anderen auszusprechen. Bei einer meiner ersten öffentlichen Lesungen habe ich bewusst einen Text ausgesucht, der mit folgendem Satz startete: Ich rieche meinen Gestank. Es ging um eine alte Frau, die häusliche Gewalt erfahren hat und darüber verrückt und obdachlos wurde. Das laut vorzulesen hat mich damals enorme Nerven gekostet, aber ich wusste, dass ich mich überwinden und zu meiner Geschichte stehen muss. Heutzutage habe ich mehr Erfahrung mit Reaktionen des Publikums und die Angst, dass jemand Ich-Perspektive, Erzähler und Autorin und damit Fiktion und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten kann, ist vergangen. Wenn Leserinnen und Leser fälschlich glauben, dass ich etwas am eigenen Leib erlebt haben muss, um es so intensiv und detailliert aufzuschreiben, dann habe ich meinen Job gut gemacht.

Als sie sich noch einmal umdreht, ist er schon längst wieder gefesselt von ihrem Geschenk. Gedämpft hört sie noch sein »Danke, Mami«, ehe sie die Tür hinter sich schließt. Sie schafft es gerade bis zum Wohnzimmer, hofft, als der Schuss die Stille durchbricht.

Was bedeutet das Gesprochene, was das Geschriebene für dich?

Das Geschriebene ist deutlich intensiver durchdacht. Ich kann mich begeistern, wenn ich Formulierungen oder Sätze lese, die einen komplexen Gefühlswirrwarr mit wenigen Worten auf den Punkt bringen. Und damit Wahrheiten schaffen. Kleine Änderungen in der Schriftsprache haben riesige Auswirkungen. Als Beispiel nenne ich immer meinen Lieblingssatz: Es kommt anders, wenn du denkst!
Um solch eine Wirkung und eine Resonanz beim Gegenüber zu erzielen, muss man tüfteln und immer wieder an den Sätzen feilen. Das funktioniert beim Gesprochenen nicht. Vielleicht bin ich deshalb Autorin geworden, weil ich nach Gesprächen oft mit dem Gefühl zurückgeblieben bin, etwas ganz anders gemeint als gesagt zu haben.

Er dachte an seine Kindheit, dachte an das Leben zu zweit mit seiner Mutter, dachte an einen freundlichen Blick hier, ein kleines Wort des Trostes dort. Dachte daran, wie sie ihm beigestanden, ihm geholfen hatte, wenn er etwas angestellt hatte. Spürte die Verbundenheit zu Marianne, die nun über ihm im Zimmer schlief und auf den Tod wartete.

Patricia Malcher (Foto © Tim Bohr)

Wer wärst du ohne deinen Vor- und Zunamen?

Meine Vorfahren stammen aus Jugoslawien, Österreich, der Türkei, Ostpreußen, Armenien und Italien. Dementsprechend kompliziert ist mein Geburtsname. Während meiner Kindheit und Jugend wurde er unablässig falsch geschrieben und falsch ausgesprochen. Selbst als er eingedeutscht wurde, wurde es nicht besser. Bei meiner Heirat habe ich dann den Namen meines Mannes, Malcher, angenommen. Seitdem bin ich zwar die Gleiche geblieben, muss mich aber nicht immer erklären. Der Alltag ist leichter geworden, obwohl ich schon das Gefühl habe, meiner Herkunft so nicht gerecht zu werden. Im Grunde genommen identifiziere ich mich eher mit meinem Vor- als mit meinem Nachnamen. Und mit meinem Vornamen, Patricia, bin ich mehr als glücklich.

Wie sehr haben deine Erfahrungen als Pädagogin deine Art Menschen, im Speziellen: Kinder zu sehen beeinflusst?

Sehr. Egal, mit welcher Romanidee ich mich herumschlage, immer spielt ein Kind eine tragende Rolle.
Vielleicht habe ich gerade deshalb LIEB KIND geschrieben, um die Chancen-Ungleichheit, die Kinder betrifft, zu verarbeiten. In den Grundschulen sehe und erlebe ich dermaßen viele Ungerechtigkeiten, dass ich manchmal daran verzweifeln könnte. Gerade mal sechs Jahre alt und schon haben die Mädchen und Jungen unterschiedliche Bildungschancen, finanzielle Nöte, Startschwierigkeiten, Entwicklungsdefizite. Was mich seit 25 Dienstjahren am meisten belastet, ist der Unterschied im Ausmaß der familiären Liebe, die Kinder erhalten. Die einen sind gewollt, werden umsorgt und mit Liebe überhäuft, zum Teil sogar erdrückt. Die anderen sind einfach da (oder werden sogar abgelehnt), sind schutzlos, ohne Zuwendung oder Fürsorge. Liebe und Urvertrauen sind für sie Fremdworte. Es gibt niemanden, der ihre Interessen vertritt, nicht einmal die Mutter. Das macht mich betroffen und ich stelle mir vor, welche Auswirkungen eine solche Kindheit, ein solcher Mangel an Liebe auf das Erwachsenenleben haben wird. Auf die Spitze getrieben habe ich diese Betroffenheit in der Einstiegsszene von LIEB KIND.

Wie empfindest du das derzeitige Klima im Literaturbetrieb?

Viel zu schnelllebig. Gute Bücher werden kaum wahrgenommen. Orientiert wird sich eher an der Spiegel-Bestsellerliste und an den Neuerscheinungen als an persönlichen Empfehlungen. Das finde ich sehr schade. Denn leider ist es nur ein Bruchteil Bücher, die den Leser oder die Leserin emotional ansprechen, fesseln und lange im Gedächtnis bleiben. Solche Bücher sind es, die bereichern. Und meist wurden mir die von Freundinnen und Freunden oder anderen Lesekreis-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern angepriesen.
Insgesamt tut es mir leid um viele gute Geschichten, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Und das nur, weil Programmplätze schon belegt sind oder ein Text sich nicht eindeutig E oder U zuordnen lässt. Aber oft sind gerade die Geschichten spannend und interessant, die sich nicht einordnen lassen. Diese zu veröffentlichen, erfordert Mut. Umso dankbarer bin ich meinem Verlag TEXT/RAHMEN, der mich sehr gut unterstützt, immer ansprechbar ist und an LIEB KIND und mich als Schriftstellerin glaubt.

Die Kälte, die Glätte, die er berührt hatte, kamen ihm bekannt vor, ließen ihn zurückschrecken. Er hob seine Taschenlampe und leuchtete den Boden des Faches ab. Kreisrund beleuchtet lag dort genau das, was er befürchtet hatte. Von dem er bereits geträumt hatte. Rostete dort seit knapp vierzig Jahren vor sich hin. Existierte.

Was passiert mit all unseren vergessenen und verdrängten Erinnerungen?

Sie kämpfen sich auf jeden Fall irgendwann im Leben an die Oberfläche. Das kann nach einigen Tagen sein oder auch nach Jahrzehnten, wenn du gerade im Garten die Rosen zurückschneidest.  Also aufgepasst: Vielleicht fördert der Geruch einer Apfelsine oder das Geräusch eines buddelnden Maulwurfs gerade bei dir eine Erinnerung zutage, mit der du selbst niemals gerechnet hast. Schön, wenn es etwas ist, mit dem du etwas Positives verbindest. Quälend, wenn etwas bewusst oder unbewusst verdrängt wurde. Dann wird es unangenehm, letztlich aber auch heilsam … Interessant ist, dass Erinnerungen auch bewusst manipuliert werden können. So macht es ja auch Marianne mit ihrem Sohn Jens in LIEB KIND.

Danke Anna Herzig und Patricia Malcher!

  • Patricia Malcher: LIEB KIND. Roman. Wien: Verlag TEXT/RAHMEN 2020. 246 Seiten, Softcover, 120 x 180 mm. 14,30 Euro.

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