
Es beginnt mit dem Ende. Dem blickt die erst 20-jährige Ich-Erzählerin Sheyda Porroya in Ava Farmehris Debütroman Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen im Todestrakt eines iranischen Gefängnisses entgegen, mit dem fraglos nur das für seine unerbittliche Folter bekannte Teheraner „Evin“ gemeint sein kann.
Sie werden mich töten. Mein Prozess hat drei Wochen gedauert. Und ich habe noch Glück, manch unglückliche Seele wartet jahrelang, nur um am Ende dieselbe Nachricht zu erhalten. […] und so kam die zügige Entscheidung nicht überraschend. Jedenfalls nicht für mich. Schließlich ist das hier Iran.
Ansonsten mit überlaufender Fantasie gesegnet, gibt sich Sheyda keinen Illusionen hin, wenn es um das gnadenlose Räderwerk des Gottesstaates geht, der sie für den Mord an ihrer Mutter zum Tod durch Erhängen verurteilt hat. Die aufwühlende Retrospektive wirft mit voranschreitender Lektüre gar die Frage auf, wie sie das Alter von 20 Jahren überhaupt erreichen konnte. Denn Sheyda ist unangepasst und aufmüpfig. Sie lästert über Gott und versucht sich in Selbstermächtigung. Sheyda, deren glücklose Eltern nur heirateten, weil die Mutter mit ihr schwanger war, spürt von Anfang an, dass in ihrem Leben alles falsch läuft.
Dass ihre Geburtsstunde mit jener der Islamischen Republik Iran zusammenfällt, ist freilich kein Zufall. Denn die Jahre, die wir mit Sheyda erinnern, beschreiben nur vordergründig ein einzelnes Schicksal voller Enttäuschungen, Verfehlungen und Unmöglichkeiten und den aussichtslosen Kampf gegen all das. Die große Geschichte, die der Erzählung zugrunde liegt, handelt vielmehr vom Schicksalsjahr 1979 und dem Trauma, das sich unter Ayatollah Khomeinis eiserner Führung über die iranische Gesellschaft legte und bis heute anhält.
Meine Eltern gehörten zu den Millionen von Iranern, die unzufrieden damit gewesen waren, wie der Schah das Land regierte. Auch sie hatten nachts auf Dächern gestanden und ‚Allahu akbar‘ gerufen. Meine sündigen Eltern, die für ihr Leben gern in die Disco gingen, hatten den frommen Spruch in einen Abgrund der Verzweiflung hineingebrüllt. Und von dort war er als Echo wieder herausgeschallt und hatte den Schah zu Fall gebracht. Meine Eltern unterstützen die Islamische Revolution und unterschrieben mit ihrem Blut. Sie wollten Veränderung, Veränderung um jeden Preis. Die sollten sie bekommen.
Kaum jemand konnte damals ahnen, dass dem aus dem Land vertriebenen herrschenden Monarch Mohammad Reza Pahlavi, der korrupt und manchen zu sehr am Westen orientiert war, das weitaus totalitärere Mullah-Regime folgen und der Krieg mit dem Irak eine der ersten Amtshandlungen der neuen politischen Realität werden sollte. Sheydas Mutter zerbricht an diesen Entwicklungen. Ihre Tochter beobachtet, wie sie melancholisch über die Kleider vergangener Partynächte im Schrank streicht, wo sie nun, seit man draußen an ihrer Stelle schwarzen Tschador trägt, auch bleiben müssen.
Und auch Sheyda gibt ihren Eltern wenig Grund zur Freude. Sie tanzt von klein auf allen auf der Nase herum, lügt, macht auch als sie größer wird noch ins Bett. Sie zelebriert ihre unerfüllte Liebe zum geheimnisvollen Nachbarn, der im Rollstuhl sitzt, bis zur letzten Konsequenz, ihm auch den Selbstmord nachzutun. Das gescheiterte Vorhaben und die darauffolgenden Jahre beim Psychiater bewirken einzig, dass sich Sheyda noch mehr im Abseits einrichtet.
Für das vermeintlich vogelfreie Gebaren der Protagonistin steht ein surreal anmutender Vogelschwarm, der ihr auf Schritt und Tritt folgt und zu dem Sheyda eine fast zärtliche Beziehung pflegt. Fantastisch ist auch die weitere Verbündete von Sheyda: Entliehen ist nicht nur der Titel des Romans von Dantes Inferno, von ihm stammt auch Sheydas Alter Ego Beatrice, mit der sie Dialoge führt und sich in eine Parallelwelt beamt, in der sie aus Italien stammt. Ein erträumtes Exil, das ihr um die Ohren fliegt, als sie ein Taxifahrer mit fließenden Italienischkenntnissen bloßstellt.
Wer hier wen entlarvt, ist dennoch nicht die Frage. Man mag Sheyda stellenweise für verrückt, über lange Seiten als unsympathisch und bisweilen erschöpfend melodramatisch wahrnehmen, ihren persönlichen Kampf für die Freiheit gibt sie aber selbst dann nicht auf, wenn er ihr Leben retten könnte.
Bei aller durchscheinenden Beklemmung gehen Form und Inhalt eine derart ästhetische Symbiose ein, dass man am grauenvollen Abgrund nicht selten staunend vor dazu gänzlich gegensätzlicher poetischer Pracht steht, die einem buchstäblich die Sinne benebelt. Die Sprache ist so plastisch und die iranische Alltagskultur so greifbar, dass kein Zweifel an den persischen Wurzeln der Autorin bestehen kann, über die kaum mehr bekannt ist, als dass sie im Nahen Osten aufgewachsen ist, heute in Kanada lebt und Krieg leidenschaftlich hasst. Dass sie gut beraten ist, nicht mehr als diese spärlichen Informationen über sich preiszugeben, liegt auf der Hand. Mutige Exilantinnen wie Masih Alinejad, die von den USA aus dem Kopftuchzwang im Iran den Kampf angesagt hat, sind selbst im Ausland nicht sicher und Verhaftungen ihrer Familienmitglieder im Heimatland die gnadenlose Konsequenz. Umso mehr braucht es Bücher wie diese.
Dank an Lucia Schöllhuber (Fotos Lucia Schöllhuber)
- Ava Farmehri: Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen. Aus dem Englischen von Sonja Finck. Hamburg: Edition Nautilus 2020. 285 Seiten, gebunden. 22 Euro.