Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte (Faber & Faber Verlag)

Der Roman Weiße Rentierflechte von Anna Nerkagi, erschienen im Leipziger Verlag Faber & Faber, entführt die LeserInnen auf die Halbinsel Yamal im Nordwesten Sibiriens zum indigenen Volk der Nenzen. Deren Lebensweise ist von Traditionen geprägt, ein Überleben nur mit der Natur und in der Gemeinschaft möglich. Doch auch dort zieht die Moderne mit ihren Vorstellungen von Individualismus ein, eine unvermeidliche wie schmerzhafte Entwicklung.

Anna Nerkagi kam 1952 auf Yamal zur Welt. Wie alle Kinder verbrachte sie nur die Sommermonate bei ihren Eltern auf dem Land, den größten Teil des Jahres hingegen in einem Internat. Während der Sowjetzeit sollten die Kinder und Jugendlichen von dem als rückständig betrachteten nomadischen Leben entfremdet und sesshafte BürgerInnen werden, sehr häufig gelang dies. Nerkagi kehrte jedoch mit knapp dreißig Jahren wieder zur Lebensweise ihrer Vorfahren zurück, gründete eine Schule und begann, literarische Texte zu veröffentlichen.

Der Roman ist keine Liebesgeschichte im klassischen Sinn. Anna Nerkagi beschreibt nicht die Liebe zwischen zwei Menschen, sie bettet vielmehr eine unerfüllte Liebe in die Beschreibung der Gemeinschaft und der Kultur der Nenzen ein. Nächstenliebe, Mitgefühl, das Teilen, der Schutz der Alten und weitere Formen von Liebe werden beleuchtet.

Der 26-jährige Aljoschka hat sich während des Transports ins Internat in die gleichaltrige Ilne verliebt. Sieben Jahre ist dies her, seitdem wartet er auf ihre Rückkehr nach Yamal. Doch wie viele andere zieht sie das Leben in der Stadt vor, kein einziges Mal kam sie in dieser langen Zeit zurück zu ihrer Familie. Nicht einmal zur Beerdigung ihrer Mutter.

Die Sehnsucht nach Ilne verbindet Aljoschka mit ihrem Vater Petko. Die Mutter Aljoschkas möchte die Herrschaft über das Feuer und den Tschum, das große Familienzelt, in jüngere Hände legen. Es ist an der Zeit, dass ihr Sohn heiratet. Sie sucht eine Frau aus, Aljoschka hat nicht die Kraft, sich nicht wehren. Und so feiert er eine „Beerdigungshochzeit“. Die Hochzeit mit dem fremden Mädchen beerdigt seine Hoffnung, eines Tages mit Ilne glücklich zu werden.
Sehr schön zeichnet Anna Nergaki Aljoschkas Gewissenskonflikte nach, indem sie seine Zerrissenheit in die Handlung des Romans einflicht.

In einer eigenständigen Erzählung ein erzählt die Autorin von Serotetto Chassawa, der eines Tages mit halb verhungerten Rentieren bei der kleinen Gemeinschaft eintrifft. Er erzählt die Geschichte seines Niedergangs, der symbolisch für die Schwierigkeiten der Nenzen steht. Eine Unglückswelle nach der anderen schwappte über den Mann herein. Er verlor fast alle seine Rentiere, die Grundlage des Lebens der Nenzen. Den letzten Stoß versetzten ihm jedoch seine in Russland lebenden Kinder. Sie repräsentieren die Gier der modernen Welt.

Der Roman ist sehr poetisch und seelenvoll. In einer ruhigen und präzisen Sprache, die volle Aufmerksamkeit verlangt, erzählt Anna Nerkagi aus einem Leben, das sich über Jahrtausende wenig verändert hat, bis dann im 20. Jahrhundert eine neue Zeit anbrach. 
Sie beschreibt vor allem, was die Moderne in den Herzen der Menschen auslöste, und stellt dieser Zerrissenheit die Lebensweisheiten eines alten Volkes entgegen.

Aljoschkas Mutter erinnert ihren Sohn an einen dieser alten Grundsätze:

Ja, das ist die große Wahrheit des harten, schweren Lebens, in dem Mann und Frau fest miteinander verbunden sind wie im Gespann das Leittier und das mitziehende Ren. Geht einer von beiden zu Boden, kann der andere den Schlitten allein nicht von der Stelle ziehen – das GESPANN DES LEBENS kommt nicht von der Stelle.

Der Roman wird ergänzt durch ein Glossar, das die wesentlichen Begriffe erklärt und einer Einführung in die Kultur der Nenzen gleicht. Den Auftakt bilden sieben Doppelseiten mit Bildern des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado, die einen nachhaltigen Eindruck von der Härte des Lebens in Kälte und Schnee vermitteln. Und auch die Gesichter einiger Nenzen zeigen, eingehüllt in Rentierfelle, dass „das Rentier die Wurzel des Lebens der Nenzen (ist), und es ist auch seine Seele“.

Dank an Petra Lohrmann (Foto Natalia_Kollegova)

  • Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotografien von Sebastião Salgado. Leipzig: Faber & Faber Verlag 2021. 192 Seiten, Hardcover, 13,5 x 20,5 cm. 22 Euro

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