
Der Tod meiner Mutter hat mich in einen Erinnerungskanal gestoßen.
Seither taumle ich darin herum, als hätte sich die Schwerkraft aufgelöst.
Mit dem Tod der Mutter beginnt in Ulrike Kolbs intellektueller und emotionaler Autobiografie Erinnerungen so nah der Erinnerungsstrom. Die Schriftstellerin, die im nächsten Jahr achtzig wird, ist überrascht vom Schmerz und von ihrer Trauer, die Mutter war sehr alt, die Krankheit fortgeschritten und das Verhältnis zwischen den beiden eher kompliziert. Aber im Angesicht des Todes lösen sich alle Vorbehalte und weichen Entfernungen.
Plötzlich ist die schöne Mutter, sind deren extravagante Kleider, aber auch deren psychotische Schübe ganz gegenwärtig. Kolb erzählt von ihrem wohlhabenden Elternhaus, dem wirtschaftlichen Aufschwung in der jungen Bundesrepublik, von den Reisen nach Paris und in die Schweiz. Ein Traumpaar scheinen die Eltern zu sein, frankophile Saarländer, elegante Menschen. Aber wie in allen Familien gibt es hinter der Fassade Risse, die das Kind früh spürt. Der Vater versinkt häufig in Melancholie, die Geschäfte gehen bald schlechter, die Mutter flüchtet sich in Affären. Die lesesüchtige Tochter ist zu schüchtern, zu wenig sportlich, sie erfüllt nicht die elterlichen Erwartungen. Das tut die jüngere Schwester, die aufgeschlossen und heiter ist. Aber sie nimmt in der Erzählung keine Gestalt an, bleibt schemenhaft.
Es geht der Autorin nicht um eine umfassende chronologische Autobiografie, sie entwirft vielmehr Lebensreisestationen. Menschen tauchen auf, touchieren das Mädchen, später die junge Frau. Genaue Charakterzeichnungen oder psychologische Stimmigkeit sind nicht das Ziel, stattdessen: lebensprägende Stimmungen und generationentypische Entscheidungen.
Eine heftige Jugendliebe, die schmerzlich endet. Eine frühe unglückliche Ehe mit einem Juristen, der sich um das gemeinsame Kind nach der Scheidung nicht mehr kümmert, der Aufbruch ins Wohngemeinschaftsleben. Die alleinerziehende Mutter stürzt sich in die Studentenbewegung, Kinderladenexperimente, Gruppenleben auf dem Land, die kleine Tochter muss alle Emanzipationsaufbrüche mitmachen und aushalten. Und ihrer Mutter das später – wie viele dieser Kinderladenkinder – vorhalten. In Frankfurt gehört Ulrike Kolb zur linken Bewegung, auch da sind es nicht die inneren Beweggründe, denen sie nachgeht, sie stellt sich nicht die Frage, warum sie da gelandet ist, was ihre Antriebskräfte waren. Sie lebt und liebt, wie so viele intelligente junge Leute damals lebten und liebten. Die Frauenbewegung wird wichtig.
Die entscheidende Lebensspur ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Frankfurter Ausschwitzprozesse hatten in der Familie, im Freundeskreis keine Rolle gespielt, erst später wird Kolb das Ausmaß der Schuld begreifen, die Entfernung von der Linken wird für sie durch die Liebe zu und in Israel stattfinden. Sie beschäftigt sich mit linkem Antisemitismus und beginnt zu schreiben. Sie wird – das könnte das Motto dieses Lebensreiseberichts sein – erst in der Loslösung vom Kollektiv zur eigenständigen Person.
Ulrike Kolb schreibt uneitel, den Erinnerungen tastend folgend von den Jahren, die sie zu der gemacht haben, die sie heute ist, sie staunt, wie wir alle, wie schnell die Zeit vergeht, und sie entwirft am Ende ihres Buches ein wunderbares liebessattes Bild ihrer späten und glücklichen Ehe.
Erinnerungen so nah, erschienen im Wallstein Verlag, ist gleichermaßen Autobiographie wie Geschichtsbuch (ein paar bekannte Namen weniger hätten dem Buch allerdings gut getan), das die Bundesrepublik in all ihren Facetten lebendig werden lässt – vom westdeutschen Wirtschaftswunder bis zur Nachwendezeit.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert; Originalbeitrag auf DLF Kultur)
- Ulrike Kolb: Erinnerungen so nah. Göttingen: Wallstein Verlag 2021. 222 Seiten, gebunden. 22 Euro. E-Book 15,99 Euro.