Hüseyin Yurtdas: Der Verkrochene (ELIF Verlag)

Der Verkrochene des türkischen Autors Hüseyin Yurtdas trägt die Bezeichnung „Roman“ – eine Handlung im klassischen Sinne hat er nicht. Es wird keine Geschichte erzählt, es finden keine Dialoge statt. Die Anzahl der Figuren ist sehr begrenzt. Übermächtig ist ein männliches Ich, das in kurzen Abschnitten von sich und seinen Gedanken erzählt.

Es taucht ein merkwürdiger Freund auf, es gibt einen Mitbewohner während der Studentenzeit, es gibt eine junge Frau, die ihm für kurze Zeit gefällt. Der Ort ist seine heruntergekommene Wohnung, ein wenig bewegt er sich durch eine Stadt, selten geht er in eine Kneipe, noch seltener besucht er den seltsamen Freund, der auch eher mit sich selbst beschäftigt ist.

Immer wieder kommt der Protagonist auf seine Familie zu sprechen – sie scheint ein Quell des Übels zu sein. Der Großvater ist ein „Schuft“, der Vater ein „Schwindler“, die Mutter verwehrt ihm sogar die Brust, mit Schlägen auf die Lippen. Ohne elterliche Liebe muss er aufwachsen, ist ein Außenseiter in der Familie, darunter leidet er ein Leben lang. Er sucht nach Anerkennung, nach einem richtigen Freund, Gesellschaft, nichts davon findet er. Seine Katze ist das einzige Wesen, das in seiner Nähe lebt, leben kann.

Er kämpft mit den Gefühlen Neid, Hass, Wut vor allem, er bezeichnet sich als Feigling und Angsthase. Er ist „zerrissen, wankelmütig, sogar böse“.

Was für ein Mensch ist das? Er ist „ein Abbild unserer Zeit“.

Dieser Mensch seziert sich gnadenlos und ist sich seiner „Käferhaftigkeit bewusst“. Er erscheint wie ein moderner Gregor Samsa. Das, was Kafkas Samsa nach seiner Verwandlung erlebt, die soziale Isolation durch seine Familie, die schließlich zum Tode führt, spiegelt die Lage des Ich-Erzählers wider. Das Ende ist aber ein anderes, unerwartetes. Das könnte aber auch gelogen sein, denn der Erzähler bemerkt an mehr als einer Stelle, was für ein Lügner er ist.

Die kurzen Abschnitte – ein einzelner Gedanke kann mitunter über zwei Seiten verfolgt werden, manchmal steht nur ein Satz auf einer Seite – entwickeln einen Sog, der mich in diese Nichtgeschichte hineingezogen hat. Gedanken über das Wesen des Menschen, seine Bedürfnisse, über Philosophie werden eher angerissen als ausgebreitet, der Roman ist eine deutliche Aufforderung an die LeserInnen, die Überlegungen selbst weiterzuspinnen.

Im Verkrochenen stellt sich ein Mann all den dunklen Gefühlen, die in ihm toben, die sich nicht weglächeln lassen. Es ist kein bequemes Buch aus dem ELIF Verlag, man kann sich nicht hineinlegen und sich erfreuen. Aber lesen sollte man es unbedingt.

Dank an Petra Lohrmann

(Foto von Marc Pascual)

  • Hüseyin Yurtdas: Der Verkrochene. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas. Nettetal: ELIF Verlag 2020. 120 Seiten. 16 Euro.

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