
Von der Begehbarkeit des Herzens (Notizen zu Nora Gomringers Gottesanbieterin)
Nora Gomringers Gedichtband Gottesanbieterin (im Frühjahr 2020 bei Voland & Quist erschienen) spielt nicht nur im Titel, sondern auch durch seine optische Gestaltung (zwei schwarze Fangbeine zieren das silbrig glitzernde Cover) mit dem Sujet der Gottesanbeterin. Die Texte sind in dem Spannungsfeld zwischen Liebe und Verlust angesiedelt, zwischen Glauben und Sündigen, an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Und vielleicht gibt es kein treffenderes Bild aus der Tierwelt für diese Schwelle als die weiblichen Fangschrecken, die dafür bekannt sind, während der Begattung ihre Männchen teilweise oder vollständig zu verspeisen – ohne dass dadurch die Fortpflanzung beeinträchtigt wird.
Wie aber können sich zwei Menschen begegnen und trotzdem überleben, scheint eine der zentralen Fragen im Buch zu sein, so zum Beispiel in dem Gedicht „Wir tindern uns“: „was ist Berühren, wenn nicht ein ständiges / Den-anderen-Verrücken und -Begrenzen?“ Das Gegenüber ausgesucht aus einem Überangebot, das Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit begünstigt. Daraus ergibt sich bei Gomringer eine Auseinandersetzung mit den Unterschieden, den Gemeinsamkeiten von Sex und Kommunion, mit der Beobachtung, dass Liebe auch viel mit Glauben zu tun hat, dass sogar die Bereiche Beichtstuhl und Chatfenster verschwimmen: „die Ehrlichkeit kommt vom Beichtgefühl, das in der Atmosphäre liegt“. Ein weiteres treffendes Bild, das die Autorin für unser Onlinedating-Verhalten findet, sind die leeren, gegebenenfalls freizuhaltenden Plätze im Zugabteil. Last-Minute-Reservierung als Permanent-Zustand bei der digitalen Partner*innensuche.
In diesem Spiel von Angebot und Nachfrage nehmen natürlich auch Körper viel Platz ein, vor allem der weibliche. Dabei geht es um dessen Zweckentfremdung („bin ich ressource und quelle und erholungsgebiet / in der nähe für jeden deppen, für jeden fracker“), um männliche Gewaltfantasien („Einer will mir immer die Küche umbauen, um mich dort einzumauern“) und das Phänomen „male gaze“ – was der männliche Blick macht aus und mit dem weiblichen Gegenüber. Aber die Bedrohung ist nicht nur eine angedeutete, sie wird konkret ausgesprochen, ist in den Texten greifbar: „wo kämen wir denn hin, wenn keiner mehr mit dem andere gewaltsam schliefe?“
Neben feministischen Themen werden auch Verlusterfahrungen in Gottesanbieterin bearbeitet, besonders berührend in den fünf unter dem Titel „Das Buch Tim“ versammelten Texten. Vergessen und Erinnern haben die Zähne eines Haifischs, heißt es, ein ständig nachwachsendes Revolvergebiss: Ausgefallene Zähne werden ersetzt und dahinter wachsen bereits die nächsten nach. Nachrichten können an den Verstorbenen noch geschickt, aber von diesem nicht mehr empfangen werden. Was bleibt: eine geräumte Wohnung („besenrein und Blutes leer“), der Name an der Klingel, der als letztes abgelöst wird, eine von der Lücke aufgerissene Rat-, aber auch Rastlosigkeit: „wie nach allem fragen, weil alles längst erklärt, einmal schon nicht verstanden wurde.“ Eindringlich schildern die Texte, dass der Tod eines nahen Menschen auch mit Sprachverlust („Gibt im Grab eine Zwischenzeile“) verbunden ist, weil der eigens für das Gegenüber entwickelte Code auf einmal ins Leere läuft.
Im letzten und mit „Angebot“ betitelten Abschnitt verdichten sich die bereits davor spürbaren religiösen Motive, hier kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet, sich im 21. Jahrhundert als Christ*in zu definieren. „Komm größer als Trump!“, wird Jesus geraten, und dass er unbedingt als weißer Mann auf die Welt kommen möge, mit YouTube-Auftritt und mehr als nur zwölf Followern. In „Applaus“, dem letzten Text in Gottesanbieterin, gelingt es Gomringer, noch einmal die bestimmenden Themen des Buches miteinander zu verknüpfen: Das lyrische Ich beschreibt sich als Christin, die „beim Chatten nach Fotos fragt“, „ernst macht mit der Liebe für den immer Nächsten“ und „langbeinig schwankend den Männchen die Köpfe verdreht, sie zu verspeisen“.
Beim Lesen und Noch-einmal-Lesen der knapp hundert Seiten drängt sich die Frage auf: Was haben Religion und Dating gemeinsam? Beide arbeiten mit Show-Effekten und beide hängen von einem Publikum ab, das bereit ist, sich auf die dabei erschaffene Illusion einzulassen, das sich nach haltgebenden, nach sinnstiftenden Ritualen sehnt. Etwas pessimistisch könnte man auch sagen: Sowohl Glaube als auch Liebe verhalten sich wie Schrödingers Katze. Nora Gomringers Gottesanbieterin liefert vielleicht keine absoluten Antworten, aber viele Anhaltspunkte. Als Soundtrack bietet sich „Where I End and You Begin“ von Radiohead an („I will eat you alive, there’ll be no more lies“) oder man lauscht einfach der Autorin und ihrer Interpretation der Texte (was eine dem Buch beigelegte CD möglich macht).
Dank an Martin Peichl (für Text und Fotos)
- Nora Gomringer: Gottesanbieterin. Berlin: Voland & Quist 2020. 96 Seiten, Broschur, mit Audio-CD, zahlreiche Illustrationen. 20 Euro.