Najat El Hachmi: Eine fremde Tochter (orlanda Verlag)

Eine fremde Tochter von Najat El Hachmi ist die Geschichte eines marokkanischen Einwandererkindes in Spanien. Die kleine Familie besteht aus der Tochter und ihrer Mutter. Als die Tochter zehn Jahre alt war, folgten sie dem Vater, doch sie mussten schmerzhaft erfahren, dass der bereits eine neue Familie hatte. Erschienen ist der Roman im kleinen, engagierten Berliner orlanda Verlag, der für „frauen, weltkultur, bewegung“ steht.

Fast neunzehn ist die Tochter nun, hat ein glänzendes Abitur abgelegt, könnte studieren. Sie hat die Sprache so gut gelernt, dass sie mit katalanischem Akzent spricht. Sie trägt kein Kopftuch. Ihre größte Sorge ist, es der Mutter recht zu machen. Diese ist damit beschäftigt, den Lebensunterhalt der beiden mit putzen, backen und anderen Arbeiten zu verdienen, die nicht gut bezahlt werden. Sie leben in einer alten Wohnung, eine bessere können sie sich nicht leisten.

Die Tochter hat keinen Namen. Sie beschreibt in der Ich-Form ihr Leben, das die Geschichte vieler Mädchen aus Einwandererfamilien spiegelt, die nicht nur von den Eltern, sondern von der ganzen marokkanischen Gemeinde beäugt werden. Um dieser ständigen Aufsicht zu entkommen, entschließt sie sich, zu heiraten: „Ich blicke mir in die Augen und wiederhole es: Heirate, und du bist frei. Heirate, und deine Mutter ist frei.“

Diesen Gedanken wiederholt sie immer wieder, macht sich selbst Mut. Glaubt vielleicht wirklich daran. Sie heiratet ihren in Marokko lebenden Cousin, den Sohn des Bruders ihrer Mutter.

Die Hochzeit wird auf zwei Kontinenten geschlossen, der wichtige Part, die Feier mit der anschließenden Hochzeitsnacht, findet in Marokko statt – mit einer gnadenlosen Ernüchterung.

Najat El Hachmi beschreibt in ihrem Roman die Zeremonie, die Bräuche, das Verhalten der anderen Frauen, ihr Befremden ob dieser Fixierung einer Gesellschaft auf das Sexuelle, in der Sexualität sonst ein absolutes Tabu ist, „… und die zum anderen dieses obszöne Fest begeht, bei dem alle auf den Koitus des Braupaares hinfiebern, um dann die erhoffte frohe Kunde, dass die Braut eine unbefleckte Jungfrau gewesen sei, ganz groß und inklusive Feuerwerk zu feiern“.

Die Erzählerin kehrt mit ihrem Ehemann zurück nach Spanien. Der Alltag beginnt mit einem Cousin-Ehemann, der sein altes Leben weiterlebt, ohne den geringsten Beitrag zu leisten. Wie ein Pascha oder „Parasit“ hält er es für normal, nichts zu tun. Mutter und Tochter arbeiten, die Tochter mittlerweile als Reinigungskraft in einem Priesterseminar, das Studium ist in weite Ferne gerückt. Und dann kommt auch noch der Wunsch des Ehemannes auf, sie möge ein Kopftuch tragen.

Die Hoffnung der jungen Frau, mit der Heirat sich selbst und ihre Mutter zu befreien, hat sich in keiner Weise erfüllt. Und sie spürt immer deutlicher, wie weit von der Welt der Mutter, der ganzen Familie, sie sich entfernt hat, wenn sie überhaupt jemals dazugehörte.

Die Autorin, selbst Tochter marokkanischer Einwanderer, beschreibt in ihrer Geschichte nicht nur den Alltagsrassismus, die Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, die kläglichen Jobangebote, auch wenn das Zeugnis noch so gut ist, die Blicke der Männer auf die exotisch anmutenden Frauen, das endlose Geschnatter der Freundinnen ihrer Mutter, das ihr so sinnlos erscheint, sondern auch die halbherzigen Integrationsversuchen seitens der Stadtverwaltung – und vieles mehr.

Immer wieder spricht sie über Sprache, Wörter, Lesen und Lernen. Sie spürt, wie ihre Bildung sie wegträgt, spürt, dass sie niemals in der Lage sein wird, „so zu denken wie eine Analphabetin“.

Je gründlicher ich mir das Lesen abgewöhne und vergesse, was ich aus den Büchern gelernt habe, von den Wörter, von den Texten – je gründlicher ich all das abstreife, umso leichter wird es mir fallen, mich in mein neues Leben zu fügen. (…)

Das Wichtige ist, die Wahl zu haben, sagten sie mir, aber in meinem Fall ist daraus eine Katastrophe geworden. Ich traf meine Wahl, um die Dinge leichter zu machen, um zu versöhnen, um die Welt meiner Mutter und meine eigene Welt in Einklang zu bringen. (…) Je weiter ich mich von den Wörtern entferne, desto ähnlicher kann ich meiner Mutter werden. 

Doch der Kopf lässt sich nicht ausschalten.

Der Roman beginnt mit den Fluchtgedanken der jungen Frau. Sie hat ihren Rucksack gepackt, sie hat ein Bahnticket. Sie steigt ein in den Zug, der sie in die Freiheit bringen soll. Doch sie beschließt, „beim nächsten Halt wieder aus dem Zug zu steigen, den Bahnsteig zu wechseln und auf einen anderen Zug zu warten. Um nach Hause zurückzukehren, was in der Sprache meiner Mutter auch ein Wort für sterben ist.“

Diesen Spannungsbogen hält Najat El Hachmi bis zum Ende des Romans. Da der Gedanke an Flucht gesät ist, bleibt stets die Frage im Hinterkopf, ob sie es schaffen wird oder nicht. Es schaffen, bedeutet auch eine Einwilligung in die Einsamkeit. Und beinhaltet das Wissen, ihre Mutter zurückzulassen in einer Gemeinschaft, die sie für ihre Tochter missachten wird.

Das Werk der katalanisch-marokkanischen Autorin kreist um die Themen Identität, kulturelle Verwurzelung, Entfremdung. Es gelingt ihr außerordentlich gut, die Zerrissenheit ihrer Heldin zu fassen, die LeserInnen an ihren Kämpfen teilhaben zu lassen. Die psychologisch sehr feinsinnige Verknüpfung von Innen- und Außenwelt, die Konflikte, die die Erzählerin mit sich selbst austrägt, und jene, die gesellschaftlichen Ursprungs sind, der Zwist zwischen den Wünschen des Individuums und den Erwartungen der traditionell lebenden Gemeinschaft wie auch der modernen Welt verdichten sich in der jungen Frau, die auch die Frage stellt: Wie frei und tolerant ist die westliche Welt wirklich?

Der Roman ist ein Fenster, ein gelungenes Werk der Aufklärung.

Dank an Petra Lohrmann

(Foto von Daniel Wanke)

  • Najat El Hachmi: Eine fremde Tochter. Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer. Berlin: orlanda Verlag 2020. 232 Seiten, Klappenbroschur. 22 Euro

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